

S C H I E D S R I C H T E R -Z E I T U N G 1 / 2 0 1 7
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Analyse
B
eginnen wir heute einmal mit
einer Taktik-Frage: Wie nutze
ich den Ballverlust eines weit nach
vorn aufgerückten Gegners?
Einfache Antwort: durch einen
schnellen Gegenstoß. Die Defensive
des Kontrahenten ist noch nicht
wieder in ihrer Grundordnung, Lü-
cken tun sich auf, die es zu nutzen
gilt. Rasches Handeln, schnelles
Umschalten sind gefragt.
Das ist selbstverständlich eine legi-
time Verhaltensweise, die auf den
Trainingsplätzen der Bundesliga
und aller anderen Klassen immer
wieder eingeübt wird und nicht sel-
ten zum Erfolg führt. Die Aufgabe
des Schiedsrichters in einer derar-
tigen Situation? Zum einen so früh
wie möglich zu erkennen, wann
eine solche Umkehrbewegung des
Spiels einsetzt (am besten schon
vorausahnen, wann sie „droht“),
damit er durch eine Erhöhung des
eigenen Lauftempos nah am Spiel
bleiben kann. Zum anderen muss
er, wie immer, darauf achten, dass
alles mit rechten Dingen zugeht.
In einer Szene des Spiels
TSG
1899 Hoffenheim gegen Hertha
BSC (9. Spieltag)
wurde in einer
Umschalt-Situation deutlich, wie
schnell etwas „passieren“ kann,
wenn die Cleverness (oder muss
man sagen Unsportlichkeit?) eines
Spielers mit der Großzügigkeit
(oder sollte man sagen Unaufmerk-
samkeit?) eines Schiedsrichters
zusammenkommt.
Folgende Situation: Der Ball springt
bei einem Angriff von Hertha BSC
An den Werbebanden kann man gut ablesen, wie weit sich der Hoffenheimer Sandro Wagner vom eigentlichen Einwurfort nach vorn
gemogelt hat, es sind rund zwölf Meter.
Foto 1a
Einwurf am ganz
falschen Ort
Acht Szenen aus dem aktuellen Geschehen im Profi-Fußball dienen Lutz Michael Fröhlich und Lutz
Lüttig zur Aufarbeitung von interessanten Regelaspekten. Zu Anfang befassen sie sich mit der auf
diese Weise nicht gestatteten Nutzung einer Spielfortsetzung.
Foto 1b
über die Seitenlinie ins Aus (
Foto 1a,
Pfeil
), knapp 20 Meter in der Hoffen-
heimer Hälfte, in der sich in diesem
Moment auch alle Berliner Feldspie-
ler befinden.
Der Hoffenheimer Sandro Wagner
erkennt die günstige Konstellation,
schnappt sich schnell den Ball,
sprintet etwa zwölf Meter nach
vorn und bringt kurz vor der Mit-
tellinie mit einem weiten Einwurf
seinen Teamkollegen Lukas Rupp
ins Spiel (
Foto 1b
). Auf eine etwaige
Abseitsstellung braucht er ja keine
Rücksicht zu nehmen. Während
sich Rupp am linken Flügel gegen
die dezimierte Berliner Abwehr
durchsetzt, sprintet Wagner in den
Strafraum, kann von niemandem
gestört werden, wird von Rupp
angespielt und scheitert nur ganz
knapp am Berliner Torhüter Rune
Jarstein. Es gibt Eckball.
In den Fernsehbildern sieht man
noch, wie sich Fabian Lustenberger
zum Schiedsrichter umdreht und
schimpft. Weswegen wohl? Der
Berliner hatte genau erkannt, was
Wagner im Schilde führte. Man
kann sich vorstellen, welches Aus-
maß dieser Protest angenommen
hätte, wenn den Hoffenheimern
hier ein Tor gelungen wäre.
„… am Ort einwerfen, an dem der
Ball das Spielfeld verlassen hat“,
heißt die Vorschrift in Regel 15.
Das ist eindeutig. Von zwölf Meter
nach vorn sprinten, steht da nichts.
Merke: Die Großzügigkeit des
Schiedsrichters wird von allen nur
akzeptiert, solange nichts passiert…