Taktik
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Sechser kippt entweder in die Mitte oder nach außen ab, so dass
der Aufbau aus einer Dreierkette erfolgt. Die äußeren Mittelfeld-
spieler ziehen nach innen in die Halbräume zwischen die gegneri-
schen Linien. Jetzt wird es für die Abwehr schwer: Zusätzlich zu
den eng- oder manngedeckten (Halb-)Spitzen 9 und 10 muss sie
gleich mehrere Angreifer ‚vordecken’: So können sich zuweilen
zwischen den Ketten fünf oder mehr Offensive bewegen.
Das ist überhaupt eine sehr interessante und positive Entwicklung:
In den meisten Teams stehen mittlerweile mehr offensiv- als
defensivorientierte Spieler auf dem Platz. Auch die Außenverteidi-
ger werden immer mehr an ihren Offensivqualitäten gemessen.
Bei diesem Positionsspiel wird die gegnerische Abwehr gezwun-
gen, recht tief zu stehen, um das überhaupt verteidigen zu können.
Oder sie muss sehr hoch agieren, um bereits die Spieleröffnung zu
stören und Anspiele in die Tiefe zu verhindern. Doch dazu gehören
viel Mut und Überzeugung sowie eine hohe Laufbereitschaft.
Über das Aufbauspiel muss Tiefe gewonnen werden, z. B durch
einen Pass zwischen die gegnerischen Linien oder durch das
Überspielen einer Reihe. Das ist nur möglich, wenn die Offensiv-
spieler variabel agieren und immer wieder Optionen schaffen. Und
es sollte vorne wie hinten eine gute bis sehr gute Passgenauigkeit
gegeben sein.
Stichwort Verteilung auf dem Platz. Lässt sich aus einem be-
stimmten System auch eine bestimmte Spielidee ableiten?
Hier müssen wir zwischen System und Grundordnung unterschei-
den. Die Grundordnung beschreibt ja nur die Positionsverteilung,
das System beinhaltet die Interpretation durch das Verhalten der
Spieler, das auch letztlich erst die Spielidee erkennen lässt.
Alle Spitzenteams zeichnen sich mittlerweile durch eine große Va-
riabilität im Offensivspiel aus, es kommt zu ständigen nicht zufäl-
ligen, sondern speziellen Positionswechseln. Oft ist schwer festzu-
stellen, wer auf welcher Position spielt. Wer spielt 10er, wer ist
Spitze, wer rechts, wer links offensiv? Die Angreifer müssen auf
mehreren Positionen agieren können.
Ist die Spielidee abhängig vom Gegner?
Eine spannende und immer aktuelle Frage. Natürlich könnte man
Trainertypen danach unterscheiden, doch wäre das etwas ober-
flächlich. Dann wäre Trainer A der Meinung, dass sich sein Team
im System XY am wohlsten fühlt und darin am besten ihre Stärken
umsetzen kann. Er lässt sie stets in dieser Formation auflaufen –
unabhängig vom Gegner, unabhängig von personellen Bedingun-
gen, vom letzten Spiel usw.
Und Trainer B berücksichtigt jede Woche neu die Stärken und
Schwächen des Gegners und überlegt, wie seine Mannschaft sich
am besten positionieren kann, um den Gegner erfolgreich zu be-
spielen. Beides gibt es wohl, die ‘Wahrheit’ liegt aus meiner Sicht
aber wie so oft in der Mitte: Auch wenn ich den Gegner genau ana-
lysiere und meine Mannschaft auf ihn vorbereite, indem ich etwa
die Grundordnung etwas verändere, so gebe ich damit nicht zwin-
gend meine Spielidee auf.
Ein gutes Beispiel ist Thomas Tuchel. Er ist bekannt dafür, dass er
sehr akribisch von Spieltag zu Spieltag abhängig vom Gegner Lö-
sungen sucht, indem er auch die Grundordnung bisweilen kräftig
umstellt. Wenn es funktioniert, ist er für einige ein Taktikfuchs,
funktioniert es nicht, verunsichert er angeblich die Mannschaft
und lässt keine Automatismen entwickeln. Beides ist aus meiner
Sicht zu einseitig dargestellt.
Auch wenn Thomas immer wieder den Gegner genau analysiert
und die eigene Mannschaft darauf einstellt: Formationen ändern
sich mal, mal hat Mainz mehr, mal weniger Ballbesitz, mal stehen
sie tiefer, mal stellen sie ganz vorne zu. Die Spielidee aber, nämlich
schnell zu spielen, schnell umzuschalten, technisch sauber und
präzise zu kombinieren, mutig und oft hoch zu verteidigen, findet
sich in allen Spielen wieder.
Sie sagten, dass die Spielidee zentraler Bestandteil der täglichen
Trainingsarbeit ist. Wie darf man sich das vorstellen?
Ich arbeite gern mit gewissen Prinzipien, die nicht neu sind, aber
sich in jedem Training wiederfinden: “Auf Lücke stehen“, “Freilau-
fen aus der Tiefe, in der Tiefe und in die Tiefe“, “freie Räume öff-
nen und in freie werdende Räume starten“, “aus dem Rücken des
Gegners agieren“, möglichst immer “flach anspielbar sein“, der
“Ball darf nie ruhen“ (muss also immer in die Bewegung mitge-
nommen werden) usw. Alles nicht neu, aber wichtige Basisfakto-
ren, die ich in jedem Training anspreche und einfordere, vor allem
in Spielformen oder komplexen Übungsformen.
Vom sturen Einstudieren von Passfolgen halte ich eher wenig.
Grundsätzlich sollten Spiel- und Übungsformen Handlungs- bzw.
Lösungs-optionen enthalten und eröffnen. Zwar können solche
Pass- und Torabschlussformen Prinzipien und Abläufe entwickeln
Einwurf:
Der Faktor Zeit im Amateurbereich
Im Amateurbereich mit maximal 3 bis 4 wöchentlichen Einheiten
muss die Zeit sehr klug genutzt werden, zumal nicht immer alle
Spieler zur Verfügung stehen und auch die äußeren Bedingungen
kein optimales Training zulassen. Darüber hinaus lassen Arbeits-
belastungen, Schichtarbeit, Studium, Schule u.Ä. manchen Trainer
an der Realisierung einer Spielidee zweifeln. Aber Zweifel gab es
auch, als Viererkette und Raumdeckung im Profibereich mehr und
mehr Fuß fassten. Das sei im Amateurbereich nicht möglich, die
Zeit, um so etwas Kompliziertes einzustudieren, sei nicht vor-
handen usw. Mittlerweile aber ist die Kette auch dort etabliert.
Und so verhält es sich meiner Ansicht nach auch mit der Ver-
mittlung einer Spielidee. Sicher: Nicht alles ist so detailliert zu
trainieren wie im Profibereich, dennoch kann auch der Ama-
teurtrainer seiner Mannschaft seine Handschrift verpassen.
Die Kunst besteht darin, die geringe Zeit optimal zu nutzen
und nur die wirklich wichtigen Schwerpunkte zu setzen.