1 4
VERLEIHUNG DFB-WISSENSCHAFTSPREIS 2013
aber wieder die Zweifel und er sagt sich: „Wenn er nun
dieses eine Mal stehen bleibt, dann kann er den Ball ein-
fach fangen und das sieht noch schlimmer aus und ich
blamiere mich noch mehr.“ Letztlich entscheidet er sich
für die dritte Variante, er schießt den Ball sicher nach
unten rechts. Er weiß, dort bekommt er den Ball ganz gut
hin und wenn der Ball gehalten wird, sieht es auch nicht
so schlimm aus.
Was ist also passiert?
Die Angst und die folgende Gedankenkette haben dazu
geführt, dass sich der Spieler gegen zwei Optionen ent-
schieden hat, mit der er eine sehr hohe Trefferquote er-
zielt hätte und für eine Variante, auf die er nicht vorbe-
reitet ist und bei der er bei diesem Torhüter darauf ver-
trauen muss, dass dieser zufällig in die andere Ecke
springt, denn sonst ist die Erfolgschance für den Schüt-
zen nicht besonders hoch.
An dieser Stelle möchte ich einem wichtigen Interview-
partner von mir danken, nämlich Hans-Jörg Butt, den ich
im Rahmen meiner Arbeit interviewen durfte und von
dem ich sehr viel über die Perspektiven des Torhüters,
aber auch die des Schützen erfahren habe.
Die sechste Art, einen Elfmeter zu sehen, ist die des
Theoretikers. Der Theoretiker kennt sehr viele tolle Be-
funde aus der Wissenschaft. Der Elfmeter eignet sich ja
sehr gut, um erforscht zu werden, weil es sich um eine
relativ standardisierte Situation handelt, einen relativ
standardisierten Ablauf. Er kennt z.B. die Befunde aus
der Entscheidungsforschung, die zeigen, anhand wel-
cher Hinweisreize man beim Schützen die Schussrich-
tung und beim Torhüter die Sprungrichtung erkennen
kann. Das Problem bei diesen Studien ist, dass viele nur
einzelne Aspekte beleuchten und viele als Laborstudien
durchgeführt werden, die über fehlende externe Vali-
dität verfügen. Deshalb finden sie in der komplexen
Spielsituation oft keine Geltung. Der Theoretiker hilft al-
so sehr bei dem Verständnis für die Situation, er schei-
tert aber sehr oft bei dem Versuch, diese Ergebnisse in
die Praxis zu überführen. Damit ist er dem Statistiker
sehr ähnlich.
Der Statistiker kennt alle Details beim Elfmeter, auch die
unnützen. Er weiß z.B., dass jeder 20. Ball bei einem Zu-
schauer landet, dass der Ball nur 0,4 Sekunden benötigt,
um zum Tor zu gelangen, und auch, mit welcher Wahr-
scheinlichkeit ein Spieler schießt, ein weiterer Spieler
vielleicht schießt und ein dritter gar nicht schießen wird.
Und er kennt natürlich auch das Schussmuster eines
Schützen und kann sagen, mit welcher Wahrscheinlich-
keit der Torhüter nach links oder rechts springt. Und er
kennt die Studienerkenntnis, dass 99% der Schüsse, die
ins obere Drittel des Tores geschossen werden, Tore
hinschaut und sagt: „Unser nervenstärkster Schütze
wird das schon regeln!“ Grund dafür ist die Überzeu-
gung, dass man den Elfmeter nicht trainieren kann. Die-
ser Mythos der Untrainierbarkeit hält sich in der Praxis
doch relativ hartnäckig. Dabei sind bereits einige Maß-
nahmen bekannt, die der Trainer im Vorfeld einer sol-
chen Situation ergreifen kann. Aber auch in der Situa-
tion selbst ist er als emotionaler Rückhalt und Entschei-
der gefordert.
Die Perspektive des Torhüters steht ganz im Zeichen der
Frage: „Wohin schießt der Schütze?“ Dafür versucht der
Torhüter alle möglichen Hinweise zu Rate zu ziehen. Er
kennt die Vorlieben des Schützen und er achtet natür-
lich auch auf Signale des Schützen. Grundsätzlich kann
man sagen, dass es zwei Strategien bei Torhütern gibt:
Die einen entscheiden sich relativ früh, wohin sie sprin-
gen, haben vielleicht auch eine bevorzugte Ecke. Die an-
deren versuchen bis zuletzt auf Hinweisreize zu achten,
sogenannte „Cues“ zu verarbeiten. Man muss ehrlicher-
weise gestehen, dass beide Strategien empirisch gese-
hen zu relativ geringem Erfolg führen. Nur jeder fünfte
Elfmeter kann gehalten werden und der Anteil der Ent-
scheidungen, bei denen die Torhüter die richtige Ecke
„
erahnen“, liegt auf Zufallsniveau.
Die Perspektive des Schützen ist sicherlich eine der in-
teressantesten. Wir wissen aus Interviews, dass nahezu
alle Schützen eine Form von Angst verspüren. In dieser
Angst, das wissen wir aus Studien, sind die Schussge-
nauigkeit und die Entscheidungsqualität des Schützen
stark beeinträchtigt. Was dann häufig passiert, ist fol-
gende Gedankenkette, die ich an einem Beispiel verdeut-
lichen möchte: Ein Spieler besitzt eine bevorzugte Art,
einen Elfmeter zu schießen. Er beherrscht besonders
gut die Technik der torhüterabhängigen Strategie, das
sogenannte „Ausgucken“, er reagiert auf die Aktionen
des Torhüters. Wenn es jetzt zu einem entscheidenden
Elfmeter kommt, passiert es oft, dass die Personen
Zweifel haben, dass es auch gelingt. Man muss wissen,
wenn man in dieser Weise den Elfmeter schießt, dann
schießt man relativ unplatziert und nicht sehr hart, weil
es ja ausreicht, auf die Bewegungen des Torhüters zu
reagieren. Wenn solche Elfmeter gehalten werden, die
Strategie also misslingt, dann sieht die Ausführung rela-
tiv unmotiviert aus und der Spieler läuft Gefahr, sich zu
blamieren. „Ok“ sagt er, „‘Ausgucken‘“ traue ich mich
heute nicht, dann verwende ich die torhüterunabhängi-
ge Strategie, ich schieße einfach in eine Torecke oder ei-
ne Torregion“. Aus statistischen Analysen weiß der Spie-
ler, dass dieser Torhüter immer extrem in eine Ecke
springt. Also sagt er sich: „Ok, dann schieße ich einfach
den Ball in die Tormitte, das ist todsicher“. Nun kommen