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S C H I E D S R I C H T E R - Z E I T U N G 6 / 2 0 1 4
Nachruf
den. Das hat mir der Schmetzer
später so erzählt. Und das zweite
Spiel war dann schon die Reserve-
mannschaft von 08 Lindenhof
gegen Seckenheim. Nach zwei Jah-
ren war ich schon in der Landesliga
(
damals die zweithöchste Spiel-
klasse Deutschlands, d. Red.)
.
Schwierig war’s oft in Viernheim,
die hatten ein sehr aufmüpfiges
Publikum. Bei einem Elfmeter
gegen Viernheim standen sie drau-
ßen, pöbelten und drohten mit
ihren Regenschirmen. Ich dachte
nur: Irgendwie wirst du schon in
die Kabine kommen. Das klappte
auch.
Als ich drin saß, hörte ich Rufe wie:
Pfui, du Scherenschleifer!’ Und
dachte, sollst du dir das wirklich
antun? Ja, da gehst du durch, Kurt,
habe ich zu mir gesagt. Und sag’
das gerade zu meinen Linienrich-
tern, da geht die Tür auf. Und wer
kommt rein? Der Herberger! Mit
Emil Schmetzer, der inzwischen
Verbands-Schiedsrichter-Obmann
war. Sagt der Sepp Herberger
(
der
ehemalige Bundestrainer stammte
aus Mannheim, d. Red.)
zu mir:
Gratuliere, Herr Tschenscher, das
haben Sie sehr gut gemacht. Wenn
Sie so weiter pfeifen, kann aus
Ihnen mal ein großer Schiedsrich-
ter werden. Aber eines müssen Sie
berücksichtigen‘, und dabei hob er
den Zeigefinger, ‚Sie drehen sich
immer vom Spiel ab.‘ Herr Herber-
ger, das versteh ich nicht ganz.
,
Na, das ist doch ganz einfach:
Wenn der Ball ins Toraus gegangen
ist, drehen Sie sich einfach um und
laufen zur Mittellinie. Was machen
Sie denn, wenn hinter Ihnen was
passiert, und plötzlich Tumult ist
auf dem Spielfeld? Wie wollen Sie
reagieren? Gewöhnen Sie es sich
an: Als Schiedsrichter müssen Sie
immer den Ball und das Geschehen
vor Augen haben. Und dafür müs-
sen Sie auch das Rückwärtslaufen
üben. Das ist nicht so einfach, da
können Sie leicht ins Stolpern
kommen. Ich wünsche Ihnen alles
Gute!‘ Der Mann hat mich so beein-
druckt, dass ich mir gesagt habe:
So, jetzt packst du die Sache rich-
tig an. Und hab‘ dann mit dem Fuß-
ballspielen aufgehört. 1948 hatte
ich als Schiedsrichter angefangen
und 1951 war ich in der Oberliga
Süd angekommen: 1. FC Nürnberg,
Bayern München, 1860 München,
VfB Stuttgart und so weiter.“
Wer den Mannheimer Kurt Tschen-
scher gekannt hat, kann sich vor-
stellen, wie er diese Erinnerungen
vortrug – in ordentlich „manneme-
risch“ gefärbtem Hochdeutsch,
begleitet von beeindruckenden
Gesten.
Die drei Stunden des Gesprächs
vergingen in jenem Oktober 2008
wie im Flug. Dass der „Alte“ dem
Jungen“ an diesem Tag viel Mut
machte für dessen anstehende
Aufgaben und Felix Brych eine
große Karriere vorhersagte, ver-
steht sich bei dem Sachverstand
eines Kurt Tschenscher von selbst.
Dass er aber auch davon über-
zeugt war, dass „der Felix“ eines
Tages wie er selbst bei einer WM
pfeifen würde, sagte er nur dem
SRZ-Redakteur. Er hatte eben auch
das Einfühlungsvermögen, einen
talentierten jungen Mann nicht zu
sehr unter Druck zu setzen.
Kurt Tschenscher hat es in diesem
Sommer noch erlebt, dass seine
Prophezeiung sechs Jahre später
wahr wurde.
22
Jahre ganz oben
1953
DFB-Schiedsrichter
(24
Jahre alt)
1958
FIFA-Schiedsrichter (29)
1962
Europacup-Finale der
Pokalsieger (33)
1966
WM-Schiedsrichter
in England (37)
1967
Europacup-Finale der
Landesmeister (38)
1968
EM-Schiedsrichter
in Italien (39)
1970
WM-Schiedsrichter in
Mexiko (41)
1972
Finale Olympische Spiele
in München (43)
1973
DFB-Pokalfinale (44)
1974
WM-Schiedsrichter in
Deutschland (45)
1975 126.
und letztes Bundes-
liga-Spiel (46)
Kurt Tschenscher
WM 1974: Kurt Tschenscher stellte in der 2. Finalrunde im Spiel
Niederlande – Brasilien (2:0) den Brasilianer Luis Pereira vom
Platz.
Kurt Tschenscher war ein temperamentvoller Erzähler.
Kurt Tschenscher und Felix
Brych auf der Titelseite der
DFB-Schiedsrichter-Zeitung
Nr. 6/2008.