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S C H I E D S R I C H T E R - Z E I T U N G 6 / 2 0 1 4
Analyse
eine unabdingbare Voraussetzung.
Mindestens genauso wichtig ist
aber auch die Fähigkeit, sich 90
Minuten lang auf das Geschehen
auf dem Platz konzentrieren zu
können, häufig gerade dann, wenn
das Spiel unterbrochen ist.
Abschalten, sich einen Moment
mental erholen? Im heutigen
Hochgeschwindigkeits-Fußball
praktisch ausgeschlossen.
Was dann passieren kann, dafür
bot das Spiel
Hertha BSC gegen
Werder Bremen (1. Spieltag)
ein
Beispiel. Nach einem Freistoßpfiff
für Bremen im Mittelfeld entfernt
sich der Berliner Hosogai mit dem
Ball in den Händen vom „Tatort“,
während zwei Werder-Spieler das
Leder von ihm fordern
(
Foto 2a,
Pfeil)
.
Eine brisante Situation
bahnt sich an, zunächst unerkannt
vom Schiedsrichter. Denn der legt
seinen Fokus auf den Ort der Frei-
stoß-Ausführung, eine Stelle auf
dem Spielfeld, an der in diesem
Moment aber „nichts los“ ist.
Dass der Bremer Santiago Garcia
den Berliner mit beiden Händen
recht heftig vor den Kopf und an
den Oberkörper stößt
(
Foto 2b)
,
woraufhin Hosogai zu Boden
stürzt, erkennt der Unparteiische
nur aus dem Augenwinkel. Deshalb
ist er sich über die Heftigkeit des
Stoßes nicht im Klaren und belässt
es nach der Auflösung einer sich
anschließenden beträchtlichen
„
Rudel-Bildung“ bei einer Gelben
Karte für den Bremer.
Der Schiedsrichter hat für einen
Augenblick in seiner Konzentra-
tion nachgelassen und ist mit den
Augen nicht beim Ball geblieben,
was ihm ermöglicht hätte, den
entstehenden Konflikt vollständig
wahrzunehmen. Dann nämlich
wäre eine Rote Karte für den
Bremer Garcia unumgänglich
gewesen. Und auch die notwendige
Gelbe Karte für Hosogai, der diese
Situation ja provoziert hat, unter-
bleibt leider.
***
Die Frage nach der Konzentration
muss man wohl auch bei einer
Situation aus dem Zweitligaspiel
Erzgebirge Aue gegen den
VfL Bochum (2. Spieltag)
stellen.
In der Nähe der Seitenauslinie
legt sich Thomas Paulus (Aue)
den Ball mit dem Kopf zu weit
vor. Dadurch kommt der Bochumer
Latza an den Ball. Deutlich nach
dessen Abspiel und ohne reelle
Chance, den Ball spielen zu kön-
nen, trifft Paulus mit durchge-
strecktem Bein seinen Gegner
am rechten Knie
(
Foto 3)
.
Diese brutale Spielweise lässt
dem eigentlich gut postierten
Schiedsrichter hinsichtlich der
Persönlichen Strafe keinerlei
Spielraum: „Rot“ muss hier die
Folge sein.
Natürlich weiß der Schiedsrichter
das nach dem Betrachten der
Bilder auch. Er muss – gemeinsam
mit seinem Coach oder Beobach-
ter – prüfen, was ihn von der rich-
tigen Entscheidung abgelenkt
hat. War es der frühe Zeitpunkt
(12.
Minute), der ihn zögern ließ,
obwohl er die Szene genau
erkannte? Oder die Tatsache,
dass es bis dahin ein absolut fai-
res Spiel war? Alles keine Gründe.
Ein Schiedsrichter muss so kon-
zentriert sein, dass er in einer
Sekunde vom Spiel-laufen-lassen
in den Höchststraf-Modus schalten
kann. Erwarte das Unerwartete!
***
Auch diese Ausgabe der Schieds-
richter-Zeitung kommt nicht ohne
den analysierenden Blick auf das
Thema „Handspiel – strafbar oder
nicht?“ aus. Es läuft die 62. Minute
im Spiel
Schalke 04 gegen Bayern
München (2. Spieltag)
,
der Deut-
sche Meister führt 1:0.
Unmittelbar vor der Bayern-Tor-
linie versucht Xabi Alonso den Ball
mit dem Rücken zum Spielfeld
herauszuschlagen. Zugleich
springt auch der einen Meter
seitlich hinter Alonso postierte
Schalker Benedikt Höwedes in
Richtung Ball
(
Foto 4a)
.
Er
bekommt ihn aus kürzester Ent-
fernung auch an den in Brusthöhe
vor dem Körper gehaltenen linken
Arm
(
Foto 4b)
.
Der Ball fliegt ins
Tor der Bayern.
Während in der Bildmitte zwei Bremer den Ball vom Berliner
Hosogai haben wollen (Pfeil), hat der Schiedsrichter den Blick
abgewandt.
Rüde stößt Gracia den Hertha-Spieler um, der den Ball inzwi-
schen freigegeben hat.
Keine zwei Meinungen möglich: Paulus (Aue) trifft seinen
Gegenspieler mit gestrecktem Bein am Knie – „Rot“!
Foto 2a
Foto 2b
Foto 3