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S C H I E D S R I C H T E R - Z E I T U N G 6 / 2 0 1 4
Analyse
„
Rammstoߓmit
Unschuldsgeste
Neun Szenen haben sich Lutz Michael Fröhlich und Lutz Lüttig aus dem Gesche-
hen im Profi-Fußball herausgesucht, um sie in ihrem Ablauf regeltechnisch ein-
zuordnen und für alle Schiedsrichter nutzbar zu machen.
A
n den Anfang wollen wir dies-
mal eine Szene aus dem Spiel
Fortuna Düsseldorf gegen Ein-
tracht Braunschweig (1. Spieltag,
2.
Bundesliga)
stellen. Sie zeigt
unter anderem, wie sich Fußball-
Profis immer neue Verhaltenswei-
sen aneignen, um einen Vorteil zu
erlangen und den Schiedsrichter,
wenn nicht zu täuschen, dann
zumindest zu irritieren.
Der Braunschweiger Harvard
Nielsen legt sich im Düsseldorfer
Strafraum den Ball mit dem Fuß
vor. Heinrich Schmidtgal (Düssel-
dorf), der von rechts auf den
Angreifer zuläuft, erkennt die
Gefahr für sein Tor: Er wird den
Ball aber nicht vor Nielsen errei-
chen können. Also kommt eine
Grätsche für den von der Seite
heranpreschenden Verteidiger
nicht in Frage, sie würde zu einem
klaren Foul führen.
Schmidtgal wählt deshalb ein
anderes Mittel: Er vermindert sein
Tempo nicht, sondern läuft von
der Seite mit hohem Tempo und
erhobenen Armen ungestüm in
Nielsen hinein
(
Foto 1a)
,
man kann
schon fast von einem „Rammstoß“
sprechen. Durch den heftigen Kon-
takt mit dem Oberkörper kommt
der Braunschweiger Angreifer zu
Fall. Der gut postierte Schiedsrich-
ter pfeift allerdings nicht, sondern
lässt das Spiel laufen.
Er hat sich offensichtlich von der
Unschuldsgeste des Verteidigers
irritieren lassen. Schmidtgals nach
oben gerissene Arme sollen wohl
signalisieren, dass er extra im
letzten Moment versucht, einen
strafbaren Kontakt zum Angreifer
zu vermeiden. Ein Verhalten, dass
man in letzter Zeit (zum Beispiel
auch bei der WM) häufiger beob-
achten kann: „Schiri, ich treff‘ ihn
doch gar nicht! Und wenn doch,
dann nur aus Versehen.“ Hier
heißt es, sehr genau hinzuschauen.
Zur richtigen Einschätzung sol-
cher Situationen sind eigene Spiel-
Erfahrungen für jeden Schieds-
richter von hohem Wert.
Erschwerend kam in diesem spe-
ziellen Fall in Düsseldorf für den
Schiedsrichter noch hinzu, dass
der gefoulte Spieler mit einem
leicht nach außen gestellten Bein
vom natürlichen Fallmuster
abwich
(
Foto 1b)
.
Dennoch: Der
ausschließlich gegnerorientierte
Laufweg von Schmidtgal und die
Intensität des Kontakts sprechen
eine klare Sprache: Dies ist eine
eindeutige Regelwidrigkeit, die
einen Strafstoß erfordert.
***
Natürlich ist für eine gute Spiel-
leitung die körperliche Fitness
Ein Foto kann die Dynamik, mit der der Düsseldorfer Schmidtgal (links) den Braunschweiger
Nielsen „rammt“, natürlich nur unzureichend ausdrücken.
Nochmal aus anderer Sicht: Schmidtgal kam von rechts und
hätte problemlos bremsen können.
Foto 1a
Foto 1b