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S C H I E D S R I C H T E R - Z E I T U N G 3 / 2 0 1 4
Angreifer Johnson (blaues Trikot), Verteidiger Stranzl und Torwart ter Stegen sprinten zum Ball.
Schiedsrichter Stieler beeilt sich, nahe an die Szene heranzukommen.
Stranzl foult Johnson, der Schiedsrichter hat sich einen freien
Blick auf die Situation verschafft.
Analyse
Wenn der Schiedsrichter
etwas ahnt
Sieben Szenen aus dem Profi-Fußball haben Lutz
Michael Fröhlich und Lutz Lüttig für diese Aus-
gabe näher analysiert. Gleich zu Anfang geht es
um eine besondere Art der Entscheidungsfin-
dung, mit deren gelungener Anwendung der
Schiedsrichter seine Akzeptanz bei den Beteilig-
ten erhöhen kann.
D
er Begriff, um den es geht,
kommt wie so viele Wörter in
unserer Sprache aus dem Lateini-
schen:
anticipatio
bedeutet
Vor-
wegnahme.
Die „Antizipation“
wird in diversen Wissenschaften
benutzt; im Sport bezeichnet sie
die mentale Vorwegnahme eines
künftigen Bewegungsablaufs.
Es hilft dem Tennisspieler, wenn er
sich ziemlich sicher sein kann,
wohin der Ball von seinem Gegner
gleich geschlagen wird; ebenso
wie dem Judokämpfer, wenn er
eine Vorstellung davon hat, wel-
chen Griff sein Kontrahent gleich
anwendet.
Und natürlich ist es im Fußball von
höchster Wichtigkeit, eine Ahnung
davon zu haben, was der Gegen-
spieler als nächstes machen wird.
Das beschränkt sich in unserem
Sport allerdings nicht nur auf die
Aktiven, sondern gilt gleicherma-
ßen für die Unparteiischen. Wenn
der Schiedsrichter ahnt, was
gleich passieren wird oder zumin-
dest passieren könnte, bringt ihm
das einige Vorteile.
Ein konkretes Beispiel dazu bietet
das Spiel
Borussia Mönchenglad-
bach gegen 1899 Hoffenheim
(22.
Spieltag).
Der Hoffenheimer
Fabian Johnson läuft im Gladba-
cher Strafraum auf der Seite des
Schiedsrichter-Assistenten Rich-
tung Torauslinie zum Ball. Borus-
sia-Torwart Marc-André ter Stegen
und sein Kollege Martin Stranzl sind
ebenfalls auf dem Weg dorthin.
Auch Schiedsrichter Tobias Stieler
hat sein Lauftempo erhöht
(
Foto 1a).
Was hat ihn dazu veranlasst? Die
Entfernung der Spieler zum Ball
und die Dynamik in den Bewegun-
gen signalisieren ihm, dass es zu
einer kritischen Situation kommen
könnte. Wie kommt er zu dieser
Ahnung? Aus seiner Erfahrung
heraus könnte man sagen – und
liegt damit sicher nicht falsch.
Wissenschaftlich ausgedrückt: Der
Schiedsrichter gleicht seine
aktuellen Sinneseindrücke mit
bestehenden Gedächtnisinhalten
ab, um sich durch möglichst
geeignete Aktionsmuster auf die
unmittelbar bevorstehende Situa-
tion einzustellen.
Stieler läuft daher zielgerichtet in
den Strafraum hinein und auf die
Situation zu, mit Blick zwischen
die Spieler. Er erfasst, dass Stranzl
nicht den Ball spielt, stattdessen
Johnson durch einen Fußangriff
zu Fall bringt
(
Foto 1b).
Seine gute
Antizipation ermöglicht dem
Schiedsrichter ein erstklassiges
Stellungsspiel, das ihm wiederum
den Weg zur richtigen Entschei-
dung, dem Strafstoß, ebnet.
Kann man das lernen? Zunächst
wohl nur passiv, denn ein Jung-
Schiedsrichter muss erst einmal
Erfahrungen in den verschiedens-
Foto 1a
Foto 1b