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S C H I E D S R I C H T E R - Z E I T U N G 3 / 2 0 1 3
Der 31-jährige Felix Zwayer
pfeift seit 2009 in der Bundes-
liga und steht seit Januar 2012
auf der FIFA-Liste.
Um die „Vorteil“-Regel richtig und
sinnvoll anzuwenden, braucht es
eine Menge Spiele, wenn nicht
sogar einige Jahre an Erfahrung
als Schiedsrichter. Worauf es dabei
besonders ankommt, erklärt FIFA-
Schiedsrichter Felix Zwayer in der
Rubrik „Aus der Praxis – für die
Praxis“.
Herr Zwayer, worin liegt Ihrer Mei-
nung nach die größte Schwierigkeit,
die „Vorteil“-Regel sinnvoll einzu-
setzen?
Felix Zwayer:
Die Entscheidung ist
komplex und von zahlreichen Fakto-
ren abhängig, die alle in kürzester
Zeit bewertet und abgewogen wer-
den müssen. Hierbei sind neben
jahrelanger Erfahrung als Schieds-
richter auch fußballerisches Spiel-
verständnis und ein guter Überblick
hilfreich. Wendet man „Vorteil“ in
den falschen Situationen an,
besteht die Gefahr, dass ein Spiel
aus den Fugen geraten, zumindest
aber zeitweise unruhig werden
kann.
Was sind die Kriterien, nach denen
Sie entscheiden, ob Sie das Spiel
sofort unterbrechen oder ob Sie
Vorteil“ laufen lassen?
Zwayer:
Es geht darum, die Spiel-
phase und den Spielcharakter zu
bewerten, die einzelne Situation –
also die Charakteristik und die Aus-
wirkung eines Vergehens – zu
erkennen und die jeweiligen Vor-
und Nachteile einer Spielunterbre-
chung oder eben einer Vorteil-
Gewährung einzuschätzen. Erst
wenn man all' diese Dinge in kürzes-
ter Zeit übereinanderlegt, kann man
sich sinnvoll für oder gegen eine
Vorteil-Gewährung entscheiden.
Wann spricht man denn von einem
sinnvollen Vorteil“?
Zwayer:
Bloßer Ballbesitz, vielleicht
sogar in der eigenen Spielfeldhälfte,
ist nicht automatisch auch ein Vor-
teil. Das Entscheidende bei der
Bewertung ist der tatsächliche Vor-
teil für das Spiel. Ergeben sich also
eine aussichtsreiche Angriffs-Situa-
tion, eine Dynamisierung des Spiel-
ablaufs, eine Überzahl-Situation für
die angreifende Mannschaft, dann
wird eine Vorteil-Gewährung
zumeist begrüßt.
Welche Rolle spielt in diesem Zu-
sammenhang der Spielcharakter?
Zwayer:
Der Spielcharakter hat
einen erheblichen Einfluss auf die
Entscheidung. Bei unruhigem Spiel-
verlauf sind schnelle und präzise
Entscheidungen von großer Bedeu-
tung. Sie haben Signalwirkung, und
eine Unterbrechung trägt zur Spiel-
beruhigung bei. Die unmittelbare
Ahndung eines Vergehens zeigt die
vom Schiedsrichter tolerierte Spiel-
weise auf. In einer ruhigen Spiel-
phase hingegen, in der die Spiel-
kontrolle gegeben ist, kann der
Schiedsrichter den Spielfluss unter-
stützen. Die Entscheidung „Vorteil“
stellt dann Spielverständnis und
Fachverstand unter Beweis. Den-
noch gilt: Die Spielkontrolle hat
stets Priorität. Es ist nicht die vor-
rangige Aufgabe des Schiedsrich-
ters, das Spiel um jeden Preis lau-
fen zu lassen oder es gar schnell zu
machen.
Gibt es Situationen, in denen ein
sofortiger Pfiff grundsätzlich die
bessere Entscheidung ist, als dass
man „Vorteil“ gewährt?
Zwayer:
Verletzt sich ein Spieler bei
einem Vergehen, dann sollte das
Praktische Tipps von FIFA-Schiedsrichter Felix Zwayer
Spiel sofort unterbrochen werden.
Damit ermöglicht man die Versor-
gung des Spielers und verhindert,
dass die Spieler selbst das Spiel
stoppen, indem sie den Ball ins Aus
spielen. Auch wenn sich unmittel-
bar weitere Zweikämpfe anschlie-
ßen könnten, sollte das Spiel
schnell unterbrochen werden, um
Schlimmeres zu verhindern. Auch
gilt es zu bedenken, dass fast jede
Mannschaft mittlerweile einen Frei-
stoß-Spezialisten im Team hat.
Gerade in Strafraumnähe kann die
Unterbrechung dann sogar der grö-
ßere Vorteil sein.
Mit welcher Gestik und mit welchen
Worten sollte der Schiedsrichter
gegenüber den Spielern kommuni-
zieren, dass er auf „Vorteil“ ent-
schieden hat?
Zwayer:
Beide Arme werden in
Schulterhöhe nach vorne gestreckt.
Unterstützt wird dies zumeist durch
einen lauten Ruf „Weiterspielen!“.
Ich selbst versuche häufig noch,
nach Abschluss der entsprechen-
den Spielsituation die beteiligten
Spieler zu erreichen. Im Vorbeige-
hen verdeutliche ich den Spielern,
dass ich das Vergehen erkannt
habe, aber eine Vorteil-Gewährung
für sinnvoll erachtet habe. So mer-
ken der „Täter“, dass seine Spiel-
weise als Vergehen bewertet und
nicht toleriert wird, und das
Opfer“, dass der Schiedsrichter es
schützt.
Welche Rolle spielt es für die „Vor-
teil“-Anwendung, ob das Vergehen
eine Persönliche Strafe nach sich
zieht?
Zwayer:
Ist das zugrundeliegende
Vergehen zwingend mit einer Per-
sönlichen Strafe zu ahnden, sollte
die Unterbrechung sofort erfolgen,
damit die Sanktion im zeitlichen,
örtlichen und kausalen Zusammen-
hang ausgesprochen werden kann.
Dies gilt ohne Ausnahme, wenn das
Vergehen eine Rote Karte erfordert,
meistens sogar aber auch, wenn
nur“ eine Verwarnung folgt. Vor-
teil-Gewährung und damit späteres
Aussprechen einer Verwarnung
bedürfen einer außergewöhnlichen
Situation, viel Erfahrung und unein-
geschränkter Spielkontrolle und
Akzeptanz des Schiedsrichters.
Wie lange „darf“ es bis zur nächs-
ten Spielunterbrechung dauern,
damit man nachträglich noch eine
Persönliche Strafe für ein Vergehen
aussprechen kann?
Zwayer:
Regeltechnisch kann eine
Persönliche Strafe nachträglich
ausgesprochen werden, solange
das Spiel nach einer Unterbrechung
nicht wieder fortgesetzt wurde.
Aber je länger es vom Vergehen
und der Vorteil-Entscheidung bis
hin zum Aussprechen der Persön-
lichen Strafe dauert, umso schwie-
riger wird es, die Entscheidung
nachvollziehbar darzustellen. Beim
Aussprechen der Strafe sollte durch
eine entsprechende Geste, also Zei-
gen zum Ort des Vergehens, der
Zusammenhang zu dem Vergehen
klargemacht werden. Hierbei darf
aber nie das Risiko eingegangen
werden, den falschen Spieler zu
verwarnen oder eine zwingende
Gelbe Karte nicht zeigen zu können,
weil man sich den fehlbaren Spieler
nicht merken konnte.
In welchen Situationen sollte man
als Schiedsrichter den „verzöger-
ten Pfiff“ anwenden, und worauf ist
dabei zu achten?
Zwayer:
Der verzögerte Pfiff
ermöglicht dem Schiedsrichter, in
potenziellen Vorteil-Situationen das
Geschehen zunächst zu überblicken
und dann eine Entscheidung zu
treffen. Ergibt sich der erwartete
Vorteil nicht, dann wird dem Spieler
der fällige Freistoß zugesprochen.
Die Spanne zwischen Vergehen und
verzögertem Pfiff darf allerdings
nicht zu lange ausgedehnt werden.
Insbesondere sollte spätestens
dann das Spiel unterbrochen wer-
den, wenn sich ein weiteres Verge-
hen anbahnt.
Die Spielkontrolle
hat stets Priorität“