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S C H I E D S R I C H T E R - Z E I T U N G 3 / 2 0 1 3
Zeitspanne, die hierbei eine Rolle
spielt, wird nicht exakt festgelegt.
Doch sollte der „verzögerte Pfiff“
noch im Zusammenhang mit dem
Ablauf des Geschehens zu erken-
nen sein.
Die Grundlagen zur Anwendung
von Vorteil und des verzögerten
Pfiffs sind in Regel 5 festgehal-
ten. Es heißt dort unter „Rechte
und Pflichten“:
Der Schiedsrich-
ter hat … von einer Spielunterbre-
chung abzusehen, wenn dies von
Vorteil für dasjenige Team ist,
gegen das sich das Vergehen rich-
tete, und das ursprüngliche Ver-
gehen zu bestrafen, wenn der
erwartete Vorteil zu diesem Zeit-
punkt nicht eintritt.“
Einige Abschnitte später geht die
FIFA dann in einem weiteren
Absatz nochmal auf dieses Thema
ein und gibt unter der Überschrift
Vorteil“ mehrere Hinweise auf
Aspekte, die bei der Bewertung
von Vorteil-Situationen zu beach-
ten sind. Zusätzlich wird der
Schiedsrichter an dieser Stelle
darauf hingewiesen, dass er seine
Entscheidung nach einem Verge-
hen „innerhalb der nächsten paar
Sekunden zu treffen“ hat, sodass
er mit dieser Aussage die formale
Möglichkeit zum verzögerten Pfiff
bekommt.
Wichtig für den Unparteiischen
ist in diesem Zusammenhang,
dass es sich bei der Anwendung
der Vorteil-Bestimmung um eine
Tatsachen-Entscheidung handelt.
Die Spieler haben weder einen
Anspruch noch ein Recht darauf,
dass der Schiedsrichter diese
Bestimmung anwendet, oder dass
er das Spiel nach einer Regel-
übertretung unterbricht und mit
der notwendigen Spielstrafe fort-
setzt.
Die Vorteil-Bestimmung kann vom
Schiedsrichter bei jedem Verstoß
gegen die Regel 12 angewendet
werden – unabhängig davon, ob
es sich um ein verbotenes Spiel
oder um ein unsportliches Betra-
gen handelt. Der International
Football Association Board (IFAB)
macht dazu im Regeltext keinen
Unterschied.
Jedoch zählen die Regelhüter
mehrere Aspekte auf, die eine sol-
che Entscheidung wesentlich
beeinflussen: Kommt es zu einem
schweren Vergehen, das eine Rote
Karte nach sich ziehen muss, so
hat der Schiedsrichter in jedem
Fall immer dann das Spiel zu
unterbrechen, wenn es nicht
unmittelbar nach dem Geschehen
zu einer klaren Torchance kommt.
Der Unparteiische hat auch dann
ein Vergehen abzupfeifen, wenn
die Erfolgsaussicht eines Angriffs
eher gering anzusehen ist, oder
wenn ein Foul weit entfernt vom
gegnerischen Tor erfolgt.
Darüber hinaus spielt nach Ansicht
des IFAB der Spielcharakter eine
bedeutende Rolle bei der Anwen-
dung von Vorteil. In einem über-
hart geführten, zerfahrenen Spiel
mit zahlreichen offenen und ver-
steckten Fouls muss der Unpartei-
ische deutlich kleinlicher pfeifen
als in einem fair geführten Fußball-
spiel mit einer positiven, freund-
schaftlichen Spielatmosphäre.
In einer Tabelle führen die Verfas-
ser des Lehrbriefs 48 zusätzlich zu
diesen im Regelbuch vermerkten
Kriterien weitere Faktoren auf, die
Einfluss auf die Entscheidung des
Schiedsrichters bei der Frage nach
Vorteil“ haben. Hierzu gehören
unter anderem die Beschaffenheit
des Platzes, die Wichtigkeit des
Spiels für eine oder sogar beide
Mannschaften, aber auch eine
regionale Rivalität zwischen den
Teams.
Schließlich spielt auch die Spiel-
klasse, in der der Unparteiische
eingesetzt ist, eine Rolle bei der
Vorteil“-Anwendung. „Es macht
einen großen Unterschied, ob ich
im Bezirk, auf Kreisebene oder
gar bei einem Altherrenspiel ein-
gesetzt bin“, berichtet Schieds-
richter Marc Gareis aus dem
Bezirk Hannover. „Je höher die
Spielklasse, desto mehr wollen die
Spieler, dass ich das Spiel laufen
lasse. Da soll der Spielfluss nur
dann unterbrochen werden, wenn
das Zweikampf-Verhalten zu viele
Härten aufzeigt.“ Anders sehe das
Marc Gareis aus dem Bezirk
Hannover.
Mit nach vorne gestreckten Armen zeigt Schiedsrichter Felix
Zwayer an, dass er ein Foul erkannt, aber auf „Vorteil“ ent-
schieden hat.
bei den Altherren aus: „Dort wird
oft bei kleinen Fouls laut aufge-
schrien – und die Spieler erwarten
meinen Pfiff“, sagt der 19-Jährige.
An Marcs Aussage wird deutlich,
dass es nicht ausreicht, wenn ein
Unparteiischer nur das oft zitierte
Fingerspitzengefühl bei der
Bewertung von Vorteil-Situatio-
nen besitzt. Auch darf der
Schiedsrichter das Erkennen von
Vorteil nicht ausschließlich von
der notwendigen Spielkontrolle,
seinem umsichtigen Auftreten
oder einem gehörigen Quäntchen
Glück abhängig machen.
Zur richtigen Entscheidung, ein
Spiel nach einem Foul nicht zu
unterbrechen, gehören vor allem
umfangreiche Erfahrungen nach
einer Vielzahl von geleiteten Spie-
len. Verbunden damit sind deren
kritische Reflexion und ein inten-
siver Erfahrungsaustausch mit
anderen Unparteiischen.
Die Möglichkeit einer gezielten
Schulung zur Frage „Vorteil – eher
ja oder nein?“ bietet der Lehr-
brief 48. Zusätzlich zu dieser mehr
theoretischen Arbeit werden zehn
Video-Clips aus dem aktuellen
Fußballgeschehen angeboten. An
diesen Szenen können die Refe-
rees dann auch die Fragen nach
dem „Was wäre, wenn?“ intensiv
diskutieren.
Sie werden am Ende feststellen,
dass es den hundertprozentig
richtigen Weg bei der Frage nach
Vorteil“ nicht gibt. Denn letztlich
ist die Entscheidung dazu gleich
von mehreren subjektiv zu bewer-
tenden Einflüssen abhängig.
Lehrwesen