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S C H I E D S R I C H T E R - Z E I T U N G 2 / 2 0 1 3
Analyse –
Der besondere Fall
N
atürlich schauen sich auch die
Bundesliga-Schiedsrichter lie-
ber Szenen an, in denen sie und
ihre Assistenten richtig entschie-
den haben. Aber zur Analyse eines
Spiels gehört es eben auch, die
Fehler zu untersuchen und daraus
Strategien abzuleiten, sie zu ver-
meiden. Dazu ist selbstverständ-
lich als erster Schritt nötig, das
Fehlverhalten einzusehen und,
wenn nötig, auch öffentlich einzu-
räumen.
Das hat Wolfgang Stark, Schieds-
richter des Spiels Borussia Dort-
mund gegen den VfL Wolfsburg
(2:3),
in vorbildlicher Weise getan.
Nachdem er ein Handspiel des
Dortmunders Marcel Schmelzer
auf der Torlinie wahrgenommen
hatte, entschied er auf Strafstoß
und verwies den Spieler wegen
unsportlicher Verhinderung einer
klaren Torchance des Feldes. Nach-
dem er in der Kabine die TV-Bilder
gesehen hatte, gab er kurz nach
dem Spiel zu, dass er auf dem
Platz einem Irrtum unterlegen
und seine Entscheidung eindeutig
falsch gewesen war. Schmelzer
wurde deshalb wegen dieses
„
offensichtlichen Irrtums“ des
Schiedsrichters nach § 13, Absatz 2
der Rechts- und Verfahrensord-
nung des DFB nicht gesperrt.
Damit war zumindest der dritte
Teil der sogenannten „Dreifachbe-
strafung“ (Feldverweis, Strafstoß,
Sperre) vom Tisch. Wobei der für
eine Sperre notwendige Feldver-
weis auch nicht nötig gewesen
wäre, wenn der International Foot-
ball Association Board (IFAB), das
höchste Regel-Gremium im Welt-
fußball, inzwischen dem Antrag
des DFB stattgegeben hätte, diese
Dreifachbestrafung abzuschaffen.
Dann hätte sich wohl auch die Auf-
regung der Beteiligten in engeren
Grenzen gehalten.
So aber musste Borussia Dortmund
in der 36. Minute wegen der fal-
schen Wahrnehmung des Schieds-
richters nicht nur den Ausgleich
durch den Strafstoß hinnehmen,
sondern auch für die restliche
Spielzeit von rund 55 Minuten mit
neun Feldspielern auskommen.
Jeder Unparteiische muss sachli-
che Kritik ertragen können – das
ist ja selbstverständlich. Aber ein
Bundesliga-Schiedsrichter muss
(
leider) auch damit leben, dass in
der Öffentlichkeit häufig so getan
wird, als ob der Fehler ganz leicht
zu vermeiden gewesen wäre, wenn
er „nur richtig hingeschaut“ hätte.
Diesen Vorwurf hat er vor allem
dem Eindruck zu verdanken, den
Fernsehbilder beim Zuschauer aus-
lösen. Dort steht nicht die Erkennt-
nis im Vordergrund, dass in Nor-
mal-Geschwindigkeit abgespielte
Bilder sehr wohl den Eindruck
eines Handspiels vermitteln kön-
nen, sondern nur das im Nachhin-
ein gewonnene Urteil, das auf Zeit-
lupen, Superzeitlupen und Stand-
bildern beruht.
Aber auch mit dieser Ungleichheit
der Bedingungen (zwei Augen im
Wettbewerb mit 20 Kameras) muss
der Schiedsrichter leben, wenn er
im Profibereich amtiert. Unange-
nehm und auch nicht zu akzeptie-
ren ist allerdings, wenn Vereinsver-
treter solche Situationen zu unsach-
lichen Attacken nutzen und damit
die Anhänger der eigenen Mann-
schaft zu unangemessenem Ver-
halten animieren.
Aber kommen wir zurück zu der
angesprochenen Szene. Selbstver-
ständlich hat der Schiedsrichter
sie im Nachhinein in Ruhe analy-
siert um herauszubekommen, ob
er etwas hätte anders machen
können oder ob es ein unvermeid-
licher Fehler war. Wir wollen es ihm
nachtun, denn es ging hier nicht
nur um ein vermeintliches Hand-
spiel, sondern um eine komplexe
Szene, die für den Schiedsrichter
und seinen Assistenten mehrere
unmittelbar aufeinanderfolgende
Herausforderungen bereithielt.
Foto 1:
Wolfsburgs Regisseur Diego
lupft den Ball über die Abwehr der
Dortmunder in Richtung Torausli-
nie. Sein Mitspieler Schäfer läuft in
diesem Moment aus einer Abseits-
stellung heraus Richtung Straf-
raumgrenze, ohne dabei ins Spiel
einzugreifen (Herausforderung 1
für den Schiedsrichter-Assistenten:
richtig bewertet). Allerdings ver-
deckt Schäfer dabei dem Assisten-
ten die Sicht auf Vierinha, der
dahinter aus einer knappen
Abseitsstellung zum Ball läuft
(
Herausforderung 2 für den
Schiedsrichter-Assistenten: falsch
bewertet). Eine Sache von Zenti-
metern.
Der Schiedsrichter rückt nun aus
seiner Position außerhalb des
Strafraums in den Strafraum hin-
ein und orientiert sich zur Spielsi-
tuation (Herausforderung 1 für den
Schiedsrichter: richtig verhalten).
Foto 2:
Vierinha läuft mit dem Ball
am Fuß seitlich am Torraum dem
Dortmunder Torwart entgegen. Ein
Zweikampf bahnt sich an, dement-
sprechend muss der Schiedsrich-
ter auf eine Bewertung dieses
Duells vorbereitet sein (Herausfor-
derung 2). Aber eine Zweikampf-
Einschätzung ist nicht nötig, denn
der Wolfsburger kann den Ball
zurück in die Mitte spielen. Von
dort schießt ihn Angreifer Bas Dost
aus zehn Metern direkt auf das Tor.
Foto 3:
Am Torraum wirft sich
Dortmunds Abwehrspieler Hum-
Es ging um Zentimeter
Die falsche Bewertung einer Szene am 16. Spieltag rief in der Öffentlich-
keit heftige Kritik hervor.
Bevor es zum Zweikampf mit dem Torhüter kommt, spielt
Vierinha den Ball zur Mitte.
Eine sehr knappe und schwierig zu erkennende Abseitsposi-
tion des Spielers neben der Strafraumlinie.
Foto 1
Foto 2