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S C H I E D S R I C H T E R - Z E I T U N G 2 / 2 0 1 3
Analyse
Gleich bei der ersten von acht kniffligen Szenen aus dem Profifußball gehen Lutz Wagner und Lutz
Lüttig noch einmal auf die Thematik ein, mit der sie ihre Betrachtungen in der vorherigen Ausgabe
beendet haben: Wie findet man zur richtigen Persönlichen Strafe, wenn ein Angreifer in aussichts-
reicher Position gefoult wird?
Die „Notbremse“ fotografieren
E
ine im Regelwerk oft benutzte
Formulierung lautet „nach Ansicht
des Schiedsrichters“. Sie hat elemen-
tare Bedeutung für unser Spiel, denn
sie ist der Schlüssel, mit dem sich
für den Unparteiischen der Ermes-
sensspielraum öffnet. Ohne diese
Möglichkeit, bei der Anwendung der
Regeln zum Beispiel auf den Spiel-
charakter (ruppig? fair?) einzuge-
hen, kann man kein Spiel leiten.
Zudem ist diese Formulierung Aus-
druck einer unumgänglichen Abma-
chung, die alle am Spiel Beteiligten
miteinander treffen: „Jedes Spiel
wird von einem Schiedsrichter gelei-
tet, der die unbeschränkte Befugnis
hat, den Fußballregeln … Geltung zu
verschaffen.“ So heißt es im ersten
Satz der Regel 5. Es zählt also wäh-
rend des Spiels nicht die Ansicht
eines Spielers oder Trainers von
einer Situation (zumal sie natürlich
nicht neutral sind). Und schon gar
nicht die des TV-Kommentators, die
sich zudem – je nach Zeitlupen-Ein-
stellung – öfter mal ändern kann.
Auch die Assistenten des Schieds-
richters haben – so deutlich macht
es dieser Satz im Regelwerk – kei-
nerlei Befugnis, Entscheidungen zu
treffen. Denn sie sind ja nicht gleich-
berechtigte Schiedsrichter, sondern
Helfer bei der Entscheidungsfin-
dung. Selbst das Heben der Fahne
bei einer Abseitsstellung ist eben
keine Entscheidung, sondern ein
Hinweis an den Schiedsrichter, den
er im Normalfall mit einem Pfiff erst
in eine Entscheidung verwandelt.
Aber er kann es auch lassen.
Natürlich hat auch diese Medaille
eine andere Seite: Die gesamte Ver-
antwortung für die Entscheidungen,
die in einem Spiel gefällt werden,
liegt beim Schiedsrichter. Damit
allen Beteiligten gegenüber ange-
messen umgehen zu können, ist viel-
leicht der schwierigste Lernprozess,
den er im Laufe der Jahre absolvie-
ren muss.
Auch in dieser Ausgabe stellen wir
wieder einige Fälle vor, die zeigen
sollen, wie schmal der Entschei-
dungsgrat ist, auf dem sich der
Schiedsrichter bewegt. Dass man
dabei häufig mehr daraus lernen
kann, wenn sich die Ansicht des
Unparteiischen auf dem Platz in der
nachträglichen Analyse als zweifel-
haft oder gar falsch herausstellt,
liegt auf der Hand. „Aus Fehlern wird
man klug“, lautet schließlich zu
Recht ein deutsches Sprichwort.
Dass die vielen Tausend absolut rich-
tigen Entscheidungen, die unsere
Top-Schiedsrichter auch in der Hin-
runde der Saison 2012/2013 gefällt
haben, als selbstverständlich ange-
sehen werden und deshalb in der
Öffentlichkeit kaum Erwähnung fin-
den, ist genauso ungerecht wie
lebensnah.
12.
SPIELTAG
Eintracht Frankfurt –
FC Augsburg
Ganz sicher eine der schwierigsten
Entscheidungen, die ein Schiedsrich-
ter treffen muss, ist die Abwägung
zwischen „Gelb“ und „Rot“ –
besonders in sogenannten „Not-
bremsen-Situationen“. Ein Abschlag
vom Frankfurter Tor wird kurz hinter
dem Mittelkreis mit dem Kopf verlän-
gert und fliegt so fast ideal in den
Laufweg des Angreifers Matmour.
Sein Gegenspieler Klavan springt
unter dem Ball hindurch und hält
dann den davon sprintenden Mat-
mour mit einem Griff an die Schulter
rund 25 Meter vor dem Tor in zen-
traler Position fest
(
Foto 1a)
.
Der Schiedsrichter entscheidet zu
Recht auf direkten Freistoß und zeigt
Klavan die Gelbe Karte. Dabei macht
er mit einer Geste klar, dass nach
seiner Ansicht Matmour noch von
anderen Gegenspielern hätte
gestört werden können und damit
keine eindeutige Torchance vorgele-
gen hätte. Das kann man nachvoll-
ziehen, wenn man für seine Ent-
scheidung die Situation zugrunde
legt, wie sie sich in
Foto 1b
zeigt.
Das aber ist der falsche Moment. Der
Schiedsrichter hätte für seine
Bewertung, ob hier eine klare Tor-
Dies ist der Moment, an dem der Schiedsrichter die Persönliche Strafe ausrichten muss.
Nach dieser Konstellation die Entscheidung zwischen „Rot“
und „Gelb“ zu fällen, ist zu spät.
Foto 1a
Foto 1b