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S C H I E D S R I C H T E R - Z E I T U N G 6 / 2 0 1 2
Gut gemeint
ist nicht gut gemacht
Der Videobeweis in der Praxis
Was unter Fußball-Anhängern immer wieder
diskutiert wird, konnte man während der
Olympischen Spiele beim Hockey erleben: die
Anwendung des Videobeweises. SRZ-Mitarbei-
ter Marco Haase hat sich das angeschaut.
„
Wir könnten doch einfach mal fünf Jahre mit
den gleichen Regeln durchspielen!“
Derjenige, der sich das so sehnsüchtig
wünscht, ist der Bundestrainer. Allerdings
nicht Joachim Löw, sondern Markus Weise,
der Trainer der deutschen Hockey-National-
mannschaft, die in London die Goldmedaille
gewann. Weise ist seit 2006 Trainer der Her-
ren, davor war er mit der Frauen-Mannschaft
erfolgreich.
In all’ diesen Jahren erlebte Markus Weise
zahlreiche Regeländerungen, die das Hockey-
spiel attraktiver machen sollten, manchmal
aber genau das Gegenteil bewirkten. Zum Bei-
spiel den neuen Videobeweis, der nach den
olympischen Erfahrungen in der „Süddeut-
schen Zeitung“ als „Video-Kuddelmuddel“
bezeichnet wurde.
Auch in der Fußball-Bundesliga werden immer
mal wieder Forderungen nach einem Videobe-
weis laut. So gilt Wolfsburg-Trainer Felix
Magath als großer Verfechter dieser elektro-
nischen Einmischung.
Was dem Fußball mit einem Videobeweis dro-
hen würde, kann man nach den Erfahrungen
des olympischen Hockey-Turniers erahnen:
minutenlange Spielunterbrechungen, Diskus-
sionen mit dem Schiedsrichter, der auf das
Votum des Ober-Schiedsrichters am Bild-
schirm wartet – und am Ende stellt sich dann
heraus, dass die High-Tech-Bilder nicht ein-
deutig sind und die Situation nicht sicher ent-
schieden werden kann. Die Hockey-Duelle der
deutschen Frauen gegen Australien oder der
Herren gegen Belgien standen beispielhaft
dafür, dass „gut gemeint“ noch längst nicht
„
gut gemacht“ bedeutet.
Mannschaftssportarten leben davon, dass die
Kugel rollt, dass es möglichst wenige Spiel-
unterbrechungen gibt. Spielruhen, in denen
strittige Szenen debattiert werden und Spie-
ler, Trainer, Fans und Unparteiische auf techni-
sche Voten warten müssen, nehmen dem
Sport das Tempo. Und jeder Schiedsrichter
weiß, dass in Spielruhen zudem die Gefahr
von Auseinandersetzungen zwischen den
Beteiligten auf und neben dem Spielfeld
steigt.
Zugegeben, in London ging es noch relativ
gesittet zu. Man stelle sich aber Video-Pausen
wegen strittiger Strafstoß- oder Abseits-Sze-
nen in schwer zu leitenden Duellen der Fuß-
ball-Bundesliga vor.
Wer also das olympische Hockey-Turnier unter
dem Aspekt Videobeweis studiert hat, muss
erkennen, dass die Einführung eines entspre-
chenden Verfahrens den Fußball vermutlich
ein gutes Stück seiner Attraktivität kosten
würde – egal, wie ein solches Instrument in
der Praxis ausgestaltet wäre.
Viele Fragen wären zu klären: Wie oft darf
man den Videobeweis beantragen? Bei wel-
chen Entscheidungen genau? Wie exakt müs-
sen Form und Fragestellung bei der Beantra-
gung sein? Soll der Schiedsrichter, wie es
beim Hockey möglich ist, dieses Mittel eben-
falls nutzen dürfen? Wie behält man die
Akteure während der Video-Pausen im Blick?
Was passiert mit der Tatsachen-Entscheidung,
die bis heute so viel Stress vom Fußball fern-
gehalten hat?
Hinzu kommt, dass noch so viele Kameras bei
knappen Szenen keine eindeutige Lösung bie-
ten. Beispiel Abseits: Entscheidend ist der
Moment der Ballabgabe. Doch wann genau, in
welchem Bruchteil der Sekunde, hat der Ball
den Fuß verlassen? Mehr als 20 Einzel-Stand-
bilder sind bei solchen Szenen möglich – von
„
noch hinter dem vorletzten Abwehrspieler“
über „gleiche Höhe“ bis „knapp drin“ ist alles
dabei.
Ähnlich schwierige Zeitlupen-Interpretationen
würde es bei engen Freistoß- oder Strafstoß-
Entscheidungen geben. Immer wieder
machen interessierte Fernseh-Zuschauer die
Erfahrung, dass ein und dieselbe Szene mit
unterschiedlichen Lösungen präsentiert wird –
je nach Sender, Reporter und Kamera-Per-
spektive.
Die kürzlich vom International Football
Association Board (IFAB) eingeführte Möglich-
keit, eine Torlinien-Technologie zu nutzen,
kommentierte Alex Horne, das englische Mit-
glied dieses Gremiums, im Hinblick auf weitere
Technologie im Fußball mit den Worten: „Hier
fangen wir an, hier hören wir auf.“
Dem Hockey-Bundestrainer würde der zweite
Teil dieses Satzes für seine Sportart zurzeit
wohl am besten gefallen.
Trotz Videobeweises wurde beim olympischen Hockey-Turnier über die Schieds-
richter-Entscheidungen diskutiert.
Olympia