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S C H I E D S R I C H T E R - Z E I T U N G 6 / 2 0 1 2
Analyse
Mit nacktem Oberkörper
am Zaun
Die letzte Minute der Nachspielzeit
im Spiel Hannover 96 gegen Wer-
der Bremen ist angebrochen, als
eine Flanke von links in die Mitte
des Bremer Strafraums geschlagen
wird. Zehn Meter zentral vor dem
Tor steigt Szabolcs Huszti hoch
und schießt den Ball mit einem
artistischen Seitfallzieher ins Bre-
mer Tor. Der Treffer bringt Hanno-
ver 96 den 3:2-Sieg.
Begeistert von seinem wirklich
wunderbaren Tor zieht Huszti sein
Trikot über den Kopf und jubelt
überschwänglich. Doch damit nicht
genug: Er läuft Richtung Fankurve
und erklettert mit freiem Oberkör-
per den Zaun. Zuschauer lehnen
sich zu ihm herüber und jubeln mit
dem Ungarn. Als er auf das Spiel-
feld zurückkehrt, wird er von
Schiedsrichter Deniz Aytekin
zunächst für das Trikotausziehen
verwarnt. Er erklärt dem Spieler
dann, dass er ihn auch für das
Erklettern des Zauns verwarnen
und deshalb mit „Gelb/Rot“ vom
Platz stellen muss. Ungläubig
dreinblickend verlässt Huszti das
Spielfeld.
Dieser besondere Fall eines Feld-
verweises sorgte am 3. Spieltag für
viel Aufregung, weil – wie es häufi-
ger geschieht – den Beteiligten die
Berechtigung dieser Maßnahme
mangels Regelkenntnis nicht klar
war.
Die Frage, die im Anschluss immer
wieder gestellt wurde: Konnte
Schiedsrichter Deniz Aytekin nicht
anders entscheiden? Boten sich
ihm nicht andere Möglichkeiten,
die Situation ohne Feldverweis zu
lösen?
Möglichkeit 1 – das Spiel unmittel-
bar nach dem Siegtreffer für Han-
nover zu beenden.
Das konnte er
nicht machen, da die zuvor ange-
zeigte Nachspielzeit noch nicht
abgelaufen war. Sie kann zwar ver-
längert, aber auf keinen Fall ver-
kürzt werden (siehe auch Seite 8
dieser Ausgabe).
Möglichkeit 2 – zumindest das
zweite Vergehen zu „übersehen“
oder es einfach nicht zu bestra-
fen.
Der Schiedsrichter schaut
gerade in Momenten, wenn ein
Spieler nach einem Torerfolg das
Spielfeld verlässt, genau dorthin.
Um auf die Strafe zu verzichten,
hätte Deniz Aytekin einen Ermes-
sensspielraum haben müssen. Der
ist aber bei einer explizit im
Regelwerk vorgeschriebenen Gel-
ben Karte nicht gegeben. Und
auch das unmittelbar bevorste-
hende Ende des Spiels darf auf die
Entscheidung keinen Einfluss
haben.
Möglichkeit 3 – für das Ausziehen
des Trikots und das Erklimmen
des Zaunes insgesamt nur eine
Verwarnung zu geben.
Das Ver-
halten Husztis als eine einzige Tat
zu sehen, war für den Schiedsrich-
ter auch nicht möglich, weil eben
die Regel 12 ausdrücklich vor-
schreibt, dass beide Vergehen für
sich zwingend mit „Gelb“ zu bestra-
fen sind.
Es heißt im Regelheft auf Seite 88
unter der Überschrift „Torjubel“:
Ein Spieler wird verwarnt,
wenn er an einem Zaun hochklet-
tert, um einen Treffer zu feiern.“
Ein Spieler wird verwarnt, wenn
er beim Torjubel sein Hemd aus-
zieht oder es über den Kopf
stülpt.“
Dass danach noch ein allgemeiner
Satz folgt, der dem Schiedsrichter
nahelegt, hier den gesunden Men-
schenverstand walten zu lassen,
bezieht sich eben nicht auf die bei-
den auch noch mit Beispielbildern
dargestellten Vorgänge, sondern
auf alle nicht gesondert aufgeführ-
ten „Jubel“-Fälle wie zum Beispiel
das kurzfristige Verlassen des
Spielfelds.
Ein weiterer interessanter Aspekt
dieses besonderen Falls: Hanno-
ver 96 monierte, dass eine Verwar-
nung ein Signal für den fehlbaren
Spieler sein soll und Huszti sein
Verhalten gar nicht hätte umstel-
len können, weil er ja diese erste
Gelbe Karte nicht sofort nach dem
Trikotausziehen gezeigt bekom-
men hätte. Nun ist dies gewiss kein
Versäumnis des Schiedsrichters,
sondern vielmehr der Chronologie
der Ereignisse geschuldet. Durch
Richtung eigenes Tor
(
Foto 7a).
Als Groß ihm nachläuft, ist sein
Torwart Ramazan Özcan schon da
und nimmt die Kugel mit den Hän-
den auf
(
Foto 7b).
Seit Einführung der gern als „Rück-
passregel“ bezeichneten Bestim-
mung löst eine solche Szene beim
Schiedsrichter immer dieselbe
Frage aus: Darf der Torwart den
Ball in diesem Moment mit der
Hand berühren oder nicht? Wie
immer muss er blitzschnell die
richtige Antwort finden. In diesem
Fall entscheidet er auf indirekten
Freistoß für die angreifende Mann-
schaft. Das ist allerdings ein Feh-
ler, denn weil der Ball unkontrol-
liert von Groß wegspringt, darf der
Torwart ihn mit der Hand spielen.
Weiterspielen“ wäre in diesem
Fall die richtige Entscheidung
gewesen.
Es heißt in der Regel 12: „Ein Mit-
spieler hat ihm den Ball mit dem
Der besondere Fall
Fuß absichtlich zugespielt.“ Dann
darf der Torwart den Ball nicht mit
der Hand berühren.
Beschlossen wurde diese Rege-
lung vor genau 20 Jahren, um die
damals weitverbreitete Zeitschin-
derei zu unterbinden, indem der
Ball immer wieder zum Torwart
Der Ball prallt vom Ingolstädter Groß ab …
und Torwart Özcan nimmt ihn gleich auf.
Foto 7a
Foto 7b