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S C H I E D S R I C H T E R - Z E I T U N G 2 / 2 0 1 2
Zeitreise
50
Stunden bei einer Hitze von
annähernd 40 Grad Celsius. Infolge
Fehlens von Devisen, und da er als
einziger Gast im Schlafwagen war,
mussten die Verpflegung und die
Getränke von Berlin aus mitge-
führt werden. Sie bestanden aus:
einer Dauerwurst, einem Stück
Butter, einem Brot und einem
Kasten Selterwasser.“ Man fragt
sich unwillkürlich, wie schnell die
Butter wohl geschmolzen ist …
Das Zitat stammt aus der DFV-
Schiedsrichter-Chronik, die wir
in der Schiedsrichter-Zeitung
Nr. 6/2011 ausführlich vorgestellt
haben. Die Rumänen gewannen
das Spiel vor 60.000 Zuschauern
mit 3:1.
Kaum zurück in Berlin, wartet die
nächste schwierige Partie auf
„
Gesch“, wie er überall genannt
wird. Dynamo Dresden und Wismut
Aue sind nach 32 Spieltagen der
DDR-Meisterschaft punktgleich an
der Spitze, das Entscheidungsspiel
findet am 5. Juli im Walter-Ulbricht-
Stadion statt. 50.000 Zuschauer
fiebern mit, Dynamo siegt 3:2 nach
Verlängerung.
Kein Wunder, dass Gerhard Schulz’
Selbstbewusstsein trotz der Attacken
auf der sportpolitischen Ebene
eher wächst als schrumpft. In
einem selbst verfassten Zeitungs-
artikel beschwert er sich über
Oberliga-Klubs, die untereinander
Spiele verlegen, ohne den Spiel-
ausschuss oder den Schiedsrich-
ter-Ansetzer rechtzeitig zu infor-
mieren. Und selbst der Oberbür-
germeister von Berlin bekommt
sein Fett ab, „der eine befreundete
Nation um Entsendung einer
Mannschaft zu einem internationa-
len Vergleich bat“, so schreibt
Schulz, „ohne sich vorher mit den
zuständigen Stellen in Verbindung
zu setzen“. Ist das mutig oder eher
überheblich?
Die ersten 14 Tage im August 1953
verbringt Gerhard Schulz wieder in
Rumänien. Offensichtlich hat der
rumänische Verband Gefallen an
seiner Art der Spielleitung gefun-
den, denn er lädt ihn zu den Welt-
festspielen der Jugend und Stu-
denten in die rumänische Haupt-
stadt ein. Er pfeift dort zwei Spiele
und wird im Finale als Linienrich-
ter eingesetzt.
Und im Oktober leitet Schulz
schon wieder ein Spiel in Bukarest:
WM-Qualifikation Rumänien gegen
CSR. Die Tschechoslowaken siegen
vor 90.000 Zuschauern im „Sta-
dion des 23. August“ mit 1:0 durch
einen Strafstoß, den Schulz in der
38.
Minute verhängt. Kurz vor
Schluss muss er dann noch den
Rumänen Calinoiu vom Platz stel-
len.
***
Zweifellos ist 1953 das interessan-
teste und erfolgreichste Jahr für
Gerhard Schulz als aktiver
Schiedsrichter. Er wird noch bis
1960
der Top-Schiedsrichter der
DDR bleiben.
Seine Laufbahn als Baumeister des
Schiedsrichter-Wesens in der DDR
endet hingegen schon Anfang
1954,
als er – sicher nicht freiwillig –
als Schiedsrichter-Chef zurück-
tritt. Verbrämt wird der Abschied
mit der Berufung zum „Ehrenvor-
sitzenden des Schiedsrichter-Aus-
schusses mit beratender Stimme“,
wie die „Neue Fußballwoche“
(
FuWo) meldet. Wie weit er dadurch
noch Einfluss hat, ist schwer einzu-
schätzen, deutlich erkennbar ist
aber, dass es sich beim „Rücktritt“
um eine Maßnahme gegen Gerhard
Schulz handelt und nicht gegen
den Schiedsrichter-Ausschuss ins-
gesamt. Denn der bleibt im Amt,
sein Stellvertreter Walter Rein-
hardt wird Nachfolger von „Gesch“.
Neben seinem fachlichen Können
als noch aktiver Oberliga-Schieds-
richter ist der Berliner Reinhardt
auch Mitglied der SED, eine Tatsa-
che, die ihn von Schulz unterschei-
det und dem „Staatlichen Komi-
tee“ von Manfred Ewald gefallen
haben wird.
Was Gerhard Schulz zu diesem
Zeitpunkt sicher nicht weiß und
wovon wir nicht wissen, ob er es
jemals erfahren hat, ist dies: Am
11.
Januar 1954 schreibt ein Fast-
Namensvetter von ihm, der Sach-
bearbeiter Schulze aus der Haupt-
abteilung V des Staatssekretariats
Gerhard Schulz (offener
Kragen) beim Lehrgang in
der Schweiz. In der zweiten
Reihe rechts Carl Koppehel -
mit DFB-Emblem auf der
Brust. Vorn links: Stanley
Rous.
Städtespiel Berlin gegen Moskau 1956. Wie immer erstklassig
gekleidet: Gerhard Schulz neben Schiedsrichter Aleksandrowicz
(
Polen). Links Linienrichter Helmut Köhler.
Zugangskarte für Gerhard Schulz zu den Umkleideräumen beim
WM-Qualifikationsspiel Dänemark gegen Irland 1957.
für Staatssicherheit, einen Akten-
vermerk. Dieser Vermerk genügt,
um eine Akte über Gerhard Schulz
entstehen zu lassen, von der rund
70
Seiten jetzt durch die Stasi-
unterlagen-Behörde (BStU) gefun-
den wurden.
„
Nach einer Rücksprache mit dem
Genossen
(
Name geschwärzt von
BStU)
,
Referat Fußball“, notiert der
Sachbearbeiter, dass Gerhard
Schulz Verbindungen zu ehemali-
gen Sport-Funktionären aus der
Nazizeit habe und auch alle Funk-
tionäre des DFB in Westdeutsch-
land kennen würde. Wörtlich wird
der Denunziant aus dem Fußball-
bereich des Staatlichen Komitees
für Körperkultur und Sport so
wiedergegeben: „Die Tätigkeit von
Gerhard Schulz ist zu einem Teil
undurchsichtig. So schreibt er lau-
fend irgendwelche Post in seiner
Wohnung, wozu er ein Mädel