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S C H I E D S R I C H T E R - Z E I T U N G 2 / 2 0 1 2
und einsam.“ Die Teenager werden
deshalb früher als andere lernen,
auch gegen Widerstände zu ihren
Entscheidungen zu stehen. Das
schult zum Beispiel die Art und
Weise, wie man vor Gruppen auf-
tritt. Mir wird klar, dass Schiedsrich-
ter zu sein wohl auch eine Charak-
ter-Schule ist.
3.
und 4. Tag
Es wird spannend: Fouls und
Abseits. Klar sind viele Dinge
bekannt und einfach. Aber ich erlebe
auch Überraschungen. Gerade im
Bereich Abseits staune ich, als ich
erfahre, dass vor einem Jahr
absichtliche aber verunglückte
Zuspiele der verteidigenden Mann-
schaft auf abseits stehende Angrei-
fer noch abgepfiffen wurden. Inzwi-
schen werden diese nicht mehr als
strafbar gewertet. So schnell kann
aus einem eben noch richtigen Pfiff
ein falscher werden. Ein deutlicher
Hinweis auf die nie nachlassende
Pflicht zur Fortbildung.
Langsam beginne ich auch zu ver-
stehen, warum es Spaß machen
könnte zu pfeifen: Aus ihrer Fach-
kompetenz in Sachen Regelkunde
und der Nutzung von Ermessens-
spielräumen ziehen gute Schieds-
richter die Gewissheit, dass sie zur
Qualität eines Spiels beitragen kön-
nen.
Theoretische Prüfung
Ich komme in letzter Sekunde an.
Dabei muss Pünktlichkeit doch eine
Grundtugend eines Schiedsrichters
sein. Meine ist es leider immer noch
nicht.
Ich bin etwas nervös. Die 15 Fragen
haben kleine Fallstricke, besonders
als zwei Antworten hintereinander
schlicht „Strafstoß“ lauten, stutze
ich. Ich bestehe mit 29 von 30 Punk-
ten. Nur einem Stürmer, der beim
Strafstoß zu früh in den 16-Meter-
Raum läuft, gebe ich „Gelb“. Etwas
übermotiviert.
Erstaunt bin ich über die hohe
Durchfallquote. Offensichtlich ist
der Ehrgeiz, Schiedsrichter zu wer-
den, bei einigen Jungs doch nicht
so groß. Oder ihnen ist deutlich
geworden, dass der Weg zu den
2.000-
Euro-Spielen in der 2. Bundes-
liga doch sehr anstrengend sein
dürfte.
Praktische Prüfung
Die Prüfungsanforderung des Lehr-
gangs, mindestens 1.400 Meter in
acht Minuten zu laufen, ist nicht
gerade knallhart. Ich laufe 1.700
Meter, das ist nicht besonders viel,
reicht aber. „Ihr seid jetzt Schieds-
richter!“, ruft Florian Bäcker, unser
späterer Ansetzer vom Berliner
Fußball-Verband. Auch wenn das nie
mein Traum war – es ist schon ein
erhebendes Gefühl.
Das Spannende findet an diesem
Tag allerdings vor dem Lauf statt.
Auf dem Platz proben wir, was zu
tun ist, wenn wütende Spieler auf
uns zustürmen oder wenn jemand
verletzt am Boden liegt. Eigentlich
wissen wir das ja, allerdings nur in
der Theorie. Mir wird bei diesen
Übungen bewusst, wie wichtig Kör-
persprache ist. Und dass man die
nicht am Schreibtisch lernt, son-
dern in Spielen. Und dass sie wohl
besonders für Bundesliga-Schieds-
richter eine große Rolle dabei spielt,
von den Profis respektiert zu werden.
Auch eine „Mauer“ kann man feh-
lerfrei und rasch stellen oder kom-
pliziert daran herumbasteln.
Erstaunlich, was einem mit dem
neuen Wissen alles auffällt, das kei-
nen Fan oder Spieler interessiert.
Und normalerweise auch einen
Reporter nicht, wenn er über ein
Spiel schreibt. Weitere Beispiele
kommen hinzu: Es ist wichtig, dass
ich ein Spiel laut anpfeife. Und wie
weit ich von einem Spieler entfernt
stehe, mit dem ich rede.
Alles Kleinigkeiten, so scheint es
zumindest. Aber die allein waren es
schon wert, den Schiedsrichter-
Lehrgang mitgemacht zu haben.
Denn ich verstehe immer besser,
dass es diese Dinge sind, die häufig
den Unterschied ausmachen zwi-
schen einem guten Unparteiischen
und einem, der „nur“ die Regeln
beherrscht.
Der Effekt für meine Arbeit als
Reporter: Mir ist klar geworden,
dass eine gute Schiedsrichter-Leis-
tung als Selbstverständlichkeit
angesehen wird, aber genau das
eben nicht ist. Und dass ein gut
geleitetes Spiel auf vielen Faktoren
beruht: von der Kommunikation mit
den Spielern, über Entscheidungs-
Schnelligkeit bis zum Stellungs-
spiel. Ich kann mich jetzt besser in
die Sichtweise des Unparteiischen
hineinversetzen. Und, einfach
gesagt, bei engen Entscheidungen
achte ich jetzt sofort darauf, wie
der Blickwinkel des Schiedsrichters
zu der Szene ist.
Eigentlich war es ja nur meine
Absicht, einen Schiedsrichter-Lehr-
gang zu absolvieren. Aber ich habe
schnell begriffen, dass die Erfah-
rung nur dann komplett ist, wenn
man Spiele pfeift. Das habe ich
inzwischen getan, auch wenn es
erstmal nur zwei C-Jugend-Partien
waren, die unterschiedlicher nicht
sein konnten.
Ein umkämpftes 3:1 mit gefühlten
drei Zweikämpfen pro Sekunde. Und
ein 16:0, das dennoch auf einem viel
höheren Niveau geführt wurde. Die
beeindruckendste Erkenntnis: Ein
Spiel kann durchaus ruhig dahin
plätschern, als Schiedsrichter muss
ich aber jede Sekunde konzentriert
sein. Ich darf dem Spiel nicht
zuschauen, wie ich es ja beruflich
tue. Es ist ein permanentes Abscan-
nen des Spielgeschehens, um zu
erkennen, wann ich eine Entschei-
dung treffen muss!
Genauso wie ich mir gezielt ange-
wöhnen muss, die Diagonale übers
Feld zu laufen, muss ich bewusst
auf meine Körpersprache achten.
Und ich muss ein Gefühl dafür ent-
wickeln, wann ich stärker in das
Spiel eingreife, oder wann es die
Mannschaften zu schätzen wissen,
wenn ich das Spiel eher laufen
lasse. All’ diese Dinge waren mir
vorher als Reporter oder früher als
Spieler nicht klar.
Und noch eins weiß ich jetzt: Als
Schiedsrichter bin ich wirklich
allein auf dem Feld, und der größte
Fehler ist, Kompromisse oder Kon-
zessionen zu machen. Egal wie
unsicher ich bin, ich muss jede Ent-
scheidung hundertprozentig vertre-
ten.
Ach ja, und ich habe mir neue
schwarze Fußballschuhe gekauft –
die fallen nicht weiter auf. Ich weiß
ja jetzt, wie das ist, wenn ich den
Platz betrete: Der erste Eindruck
zählt!
■
Praktische Erfahrung: Nahne
Ingwersen auf dem Weg zum
Spiel.
Konzentriert beantwortet der Reporter die Prüfungs-Fragen,
beobachtet von BFV-Lehrwart Thomas Pust.