22
S C H I E D S R I C H T E R - Z E I T U N G 2 / 2 0 1 2
Außenansicht
Wie ticken Schiedsrichter?
Nahne Ingwersen ist Sportjournalist und berichtet über Spiele und Spieler. Und auch über die Schieds-
richter muss er sich eine Meinung bilden. Um das besser hinzubekommen, hat er an einem Anwärter-
Lehrgang teilgenommen und seine Erkenntnisse für die Schiedsrichter-Zeitung aufgeschrieben.
D
FB-Pokal-Achtelfinale Hertha BSC
Berlin gegen den 1. FC Kaisers-
lautern am 21. Dezember 2011: Lau-
terns Torwart Kevin Trapp greift im
Strafraum beim Zweikampf mit
Adrian Ramos nach dem Ball, der
Hertha-Stürmer fällt aus vollem
Lauf hin. Die Fans in der Ostkurve
fordern Elfmeter. Doch Schiedsrich-
ter Florian Meyer zeigt „weiterspie-
len“ an. Ich sitze auf der Presse-
tribüne. Für mich ist die Sache klar:
Er hat richtig entschieden. Aber
vielleicht hätte ich diese Szene vor
ein paar Monaten noch anders
beurteilt.
Ich bin Bundesliga-Reporter bei
BILD, mein Job ist es, täglich mit
den Profis und dem Trainer des
Berliner Bundesliga-Vereins zu
sprechen, über sie zu schreiben
und letztlich auch ihre Leistungen
zu beurteilen. An jedem Spieltag
kommt ein häufig in Schwarz
gekleideter Mann dazu, den ich
auch bewerten muss. Wie ticken
Schiedsrichter? Das wollte ich bes-
ser verstehen. Deshalb nahm ich
im Oktober 2011 an einem viertägi-
gen Schiedsrichter-Anwärterkurs
teil.
1.
Tag
Gleich am ersten Morgen erwartet
mich am Stützpunkt des Berliner
Fußball-Verbands in Friedrichshain
die erste Überraschung: Die meis-
ten Teilnehmer sind Schüler, gerade
14
Jahre alt. Ich wirke mit meinen
34
Jahren fast wie Methusalem.
Aber ich bin ja auch nicht auf eine
Schiedsrichter-Karriere aus, son-
dern ich will lernen, den Fußball
aus der Perspektive des Referees
zu betrachten. Und die umschreibt
Schiedsrichter-Lehrwart Thomas
Pust (51) so: „Ein Schiedsrichter hat
zwei Hauptaufgaben: den Regeln
Geltung zu verschaffen und die
Spieler zu schützen.“
Doch immer häufiger müssen die
Schiedsrichter auch wissen, wie sie
sich selbst schützen. Zahlreiche
Spiele sind in dieser Saison speziell
in Berlin bereits abgebrochen wor-
den – wegen Attacken auf den
Unparteiischen. Trauriger Höhe-
punkt im September 2011: Ein Seni-
oren-Spieler schlägt Gerald Bothe
(51)
nach einer Gelb-Roten Karte
nieder. Der Schiedsrichter muss ins
Krankenhaus, erleidet Hirnblutun-
gen. Inzwischen pfeift Bothe wieder.
Doch er leidet noch immer unter
den psychischen Folgen.
Auch die Bundesliga erlebt im
November einen großen Schock:
Schiedsrichter Babak Rafati unter-
nimmt vor dem Spiel 1. FC Köln
gegen Mainz 05 einen Selbstmord-
versuch. Er erklärt später, dass der
Leistungsdruck ein Hauptgrund war.
Keine einfachen Vorzeichen, um für
den im Schiedsrichter-Bereich ohne-
hin dünn besetzten Berliner Fußball-
Verband Nachwuchs zu werben.
1.600
Partien finden pro Spieltag in
Berlin statt. Doch es gibt nur 1.000
Unparteiische. Umso dringender
ist die Ausbildung neuer Referees.
Fünf Stunden dauert der erste
Seminar-Tag. Nicht eine Sekunde
wird an diesem Tag über „Foul“
oder „kein Foul“ geredet. Philipp
Kutscher (20) leitet gemeinsam
mit Pust den Lehrgang. Kutscher
ist einer der Hoffnungsträger des
Berliner Verbands. Er ist seit sie-
ben Jahren Schiedsrichter, pfeift
A-Junioren-Bundesliga und ist
Assistent in der Regionalliga. Er
hat klare Vorstellungen, wie ein
Schiedsrichter die Regeln umset-
zen soll: „Es gilt für die geschädigte
Mannschaft den größtmöglichen
Vorteil zu suchen – und für die
schädigende Seite den größtmög-
lichen Nachteil.“ Unparteiische
müssen gerecht sein, im Sinne des
Spiels, nicht im Sinne der foulen-
den Mannschaft.
Dadurch macht man sich durchaus
unbeliebt. Deshalb müssen Schieds-
richter an wirklich alles denken. Kut-
scher: „Achtet auch darauf, saubere
Schuhe zu tragen. Als Schiedsrich-
ter darfst du nicht angreifbar sein.“
2.
Tag
Zweitliga-Schiedsrichter Daniel Sie-
bert (27) hält einen Vortrag. Die
Jugendlichen betrachten ihn wie
einen Star. Eine Stunde redet Siebert
über die Unterschiede zwischen Per-
sönlicher Strafe und Spielstrafe.
Aber viel wichtiger ist in meinen
Augen, dass er uns an praktischen
Erfahrungen teilhaben lässt: „Wenn
ihr eine Fehlentscheidung bemerkt,
versucht nie, diese zu kompensie-
ren.“ Die Jungs stürmen nach dem
Vortrag auf Siebert zu, fragen ihn,
was er für eine Zweitliga-Partie
bekommt: 2.000 Euro. Die jungen
Schiedsrichter-Anwärter strahlen!
Auf einer Powerpoint-Folie steht:
Der Schiri ist auf dem Platz allein
Prüfungsbogen, Regelheft, Kugelschreiber – nach vier intensiven Kurs-Tagen muss der theore-
tische Test bestanden werden.