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S C H I E D S R I C H T E R - Z E I T U N G 1 / 2 0 1 2
Blick in die Presse
Sebastian Rieth
schreibt über
einen Schiedsrichter-Schulungs-
abend in Griesheim, auf dem sich
Heribert Bruchhagen, der Vor-
standsvorsitzende der Eintracht
Frankfurt Fußball AG, auch zu
Beschimpfungen, Drohungen und
tätlichen Angriffen im Amateur-
fußball äußerte.
Exakt zwei Meter misst Mathias
Lippert, seit 20 Jahren Fußball-
Schiedsrichter und seit 2004 der
Obmann der Frankfurter Unpartei-
ischen. Den baumlangen Boss mit
seiner jahrelangen Routine geht
auf dem Sportplatz so schnell
keiner an – mag man denken. Die
Realität sieht anders aus. Einmal,
erzählt Lippert, sei er mit einem
Schirm attackiert worden, dann
habe man ihn mit Pflastersteinen
bedroht.
Ungeheuerliche Szenarien, die
fast zum Alltag an der kickenden
Basis gehören. Vor allem in den
Großstädten kommt es öfter zu
gewalttätigen Übergriffen gegen
Schiedsrichter – sogar im tiefen
Jugendbereich. Respekt und Aner-
kennung einer ganzen Zunft sind
in Gefahr, die Beteiligten selbst
wissen das.
Mehr als 100 Schiedsrichter sind
in das Griesheimer Bürgerhaus
geströmt, um die letzte turnus-
mäßige Sitzung der Referees in
diesem Jahr mit einem ganz
besonderen Ehrengast zu besu-
chen. Heribert Bruchhagen, Vor-
standsvorsitzender der Eintracht
Frankfurt Fußball AG, stellte sich
in einer von FR-Redakteur Jan
Christian Müller geleiteten Diskus-
sion den Fragen. Man merkt:
Diese Schiedsrichter hängen an
ihrem Job, sie lieben es, jeden
Sonntag auf den Plätzen der
Republik knifflige Aufgaben zu
lösen. Sie wissen auch, dass es so
nicht weitergeht.
Oft sei die Bundesliga ein schlech-
tes Vorbild für den Amateurfuß-
ball. „Es gibt einige ,Trainer-Exem-
plare’ in der ersten Liga, die man
ruhiger stellen muss“, sagt Lip-
pert, und Bruchhagen pflichtet
ihm bei: „Alle, die dem Schieds-
richter hinterherstiefeln, leiden
an Eitelkeit und Selbstüberschät-
zung.“ Sie hätten kein Eigenkor-
rektiv mehr.
An der Basis wissen sie, wie sie
mit den ständigen Beschimpfun-
gen umgehen müssen. Sie schal-
ten ihre Ohren auf Durchzug, die
meisten härten ab, manche
stumpfen ab. Wer beides nicht
kann, hängt die Pfeife an den
Nagel. „Das muss anders werden“,
weiß Bruchhagen, der in seiner
Karriere selbst nur einmal vom
Platz gestellt wurde. Mit DJK
Gütersloh in Wanne-Eickel sei das
gewesen, Jahre her. „Wir dürfen
unseren Schiedsrichtern nicht so
viel Druck auferlegen. Das fängt
schon mit dem Gesabbel der
Betreuer vor dem Spiel an.“ Dann
beginnt der Eintracht-Boss seinen
flammenden Appell, der allen Mut
machen sollte: „Lassen Sie sich
nicht unterkriegen, seien Sie
selbstbewusst. Ohne Sie würde es
keinen Fußball geben.“
Die Bundesliga
ist ein schlechtes
Vorbild“
Christoph Schröder
ist freier
Autor, Dozent für Literaturkritik an
der Universität Frankfurt am Main –
und Schiedsrichter. Für die Leser
der „ZEIT“ hat das Mitglied des
SV Nauheim (Kreis Groß-Gerau),
aufgeschrieben, wie ein Spielauf-
trag in der 6. Liga abläuft.
Heute also sechste Liga, Verbands-
liga Hessen-Nord, TSV Lehnerz
gegen FV Melsungen, der Dritte
gegen den Zwölften. Ich schaue
immer vor dem Spiel nach dem
Tabellenstand. Es gibt Kollegen, die
davon nichts wissen wollen. Für die
spielen nur zwei Farben gegenein-
ander. Ich beschaffe mir im Vorfeld
so viele Informationen wie möglich.
Parallelen zu
meinem Beruf
Ich weiß, dass Lehnerz als Meister-
schafts-Mitfavorit gestartet, nach
einer Niederlagenserie von Platz
eins zurückgefallen ist und Melsun-
gen als Ziel den Klassenerhalt aus-
gegeben hat. Ich weiß auch, dass
Melsungen mit Abstand auf dem
letzten Platz der Fairness-Tabelle
steht. Ruhig, vor allem unvorbelas-
tet in das Spiel gehen, aber auf
alles gefasst sein, denke ich mir.
Im Auto, etwa 100 Kilometer vor
Fulda, beginnt das Kribbeln, eine
Mischung aus freudiger Erwartung,
Anspannung und Nervosität. Wenn
dieses Kribbeln vor einem Spiel
nicht mehr einsetzt, weiß ich, dass
es Zeit wird, mir ein neues Hobby
zu suchen. Wenn das nervöse Krib-
beln nicht zeitgleich mit dem
Anpfiff aufhört, ebenso.
Bis dahin ist es jedes Wochenende
das Gleiche: Schuhe putzen, Sport-
tasche in der gleichen Reihenfolge
packen (Schuhe, Stutzen, Hose,
Warmlaufshirts und Warmlaufjacke,
Trikots). Die Mappe überprüfen, ob
alles noch da ist: Pfeifen, Wählmarke,
Spielnotizkarten, Gelbe und Rote
Karte. Die Assistenten sind mir vom
Verband zugeteilt worden. Um
12.00
Uhr habe ich beide eingesam-
melt, dann sind wir weiter in Rich-
tung Nordosten nach Lehnerz,
einem Stadtteil von Fulda, gefah-
ren.
Ich jogge zweimal die Woche zehn
Kilometer, um meine Grundfitness
zu erhalten. Hinzu kommen Sprint-
übungen auf der Laufbahn und das
wöchentliche Spiel. Die Leistungs-
prüfung, die ein Verbands-Schieds-
richter auf den Sommer-Lehrgän-
gen absolvieren muss, ist genauso
schwierig wie die, die ein FIFA- oder
Bundesliga-Schiedsrichter zu beste-
hen hat. Sie besteht aus sechs Sprints
à 40 Metern in jeweils 6,2 Sekunden.
Daran schließt sich der HIT-Test an:
20
Tempoläufe von 150 Metern, so
genannte Hits, die in je 30 Sekun-
den zu absolvieren sind. Dazwi-
schen hat man jeweils 35 Sekunden
Ruhezeit. Wem das läppisch vor-
kommt, soll es selbst ausprobieren.
80
Minuten vor dem Anstoß kom-
men wir am Sportplatz an. Spieler
und Betreuer der Gastmannschaft
steigen gerade aus ihren Autos, der
Platz ist abgestreut, im Vereins-
heim läuft der Kaffee durch die
Maschine. Der 1. Vorsitzende
begrüßt uns und zeigt uns unsere
Kabine. Danach überprüfen wir den
Platzaufbau. Ab einer Stunde vor
Spielbeginn läuft alles in einem
eingespielten Rhythmus ab: Trikot-
farben der Mannschaften abklären,
um zu wissen, welches Trikot man
selbst anziehen kann, umziehen,
kleinere Blessuren versorgen,
warmlaufen.
Die Verletzungen haben sich
gehäuft in den vergangenen Jah-
ren: Kapselriss im Sprunggelenk,
Muskelfaserriss, Meniskusriss. In
einem Monat werde ich 38 Jahre
alt, damit gehöre ich zu den ältes-
ten Schiedsrichtern in dieser Klas-
se. Meine Prüfung habe ich 1988
abgelegt, in die Verbandsliga bin
ich vor zwölf Jahren aufgestiegen.
Erfahrung hilft, ersetzt aber nicht
permanente Aufmerksamkeit. Ich
nehme jedes Spiel gleich ernst.
Knapp 7.000 Schiedsrichter gibt es
in Hessen. Etwa 80 davon pfeifen in
der Verbandsliga oder höher. Min-
destens sechsmal pro Jahr werden
wir in einem Spiel in unserer höchs-
ten Leistungsklasse beobachtet.
Der Beobachter stellt sich im Nor-
malfall 20 Minuten vor dem Spiel
in der Kabine vor. Heute ist keiner
da.
Als wir mit den Mannschaften ein-
laufen, sind etwa 120 Zuschauer
da. Es dauert nicht lange, bis ich
weiß, wie das Spiel laufen wird. Die
Melsunger haben sich eine unge-
heuer effektive Taktik zurechtge-
legt: Sobald sie den Ball haben,
dreschen sie ihn hoch und weit in
die gegnerische Hälfte. Dort ste-
hen zwei Stürmer ziemlich einsam
herum.
Lehnerz dagegen versucht es mit
Technik und Kurzpass-Spiel, was
auf dem holprigen Platz auch nicht
weiterführt. Die Zeitungen werden
noch am Abend in ihren Internet-
ausgaben von einem wahlweise
ganz schwachen“ oder von einem
von der Taktik geprägten“ Spiel
berichten. Beide haben Recht. Zur
Halbzeit steht es 0:0, eine Gelbe