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RECHTSEXTREMISMUS
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Deutschland bisher keine rechtsextreme Partei dauerhaft auf Landes- oder Bundesebene etablieren.
Aufgrund der NS-Vergangenheit stehen rechtsextreme Gruppierungen in Deutschland unter besonde-
rer Beobachtung, vor allem durch Verfassungsschutz, Staatsschutz und Polizei. Der Versuch eines
Verbots der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) scheiterte 2003. Allerdings ist frag-
lich, ob Verbote das Problem langfristig lösen können. In anderen Fällen haben Verbote, zum Beispiel
der „Wiking-Jugend“ lediglich zu Neugründungen unter anderem Namen geführt. Die NPD gibt sich
modern und operiert auf verschiedenen Ebenen. Während sie auf lokaler Ebene soziales Engagement
vorgibt, tritt sie auf Kundgebungen aggressiv auf und sucht den Schulterschluss mit den gewaltberei-
ten Kameradschaften. Einige rechtsextremistische Gruppierungen geben sich nach außen betont
moderat und „sozial“. Sie versuchen durch Kinderfeste, Sport- und Kulturveranstaltungen Einfluss und
Akzeptanz zu gewinnen. Sie verfolgen zudem offene und versteckte Strategien, um demokratische
Institutionen, Organisationen, Verbände oder Vereine personell zu unterwandern. In strukturschwa-
chen Region nutzen sie die Lücken, die der Abbau staatlich geförderter Projekte hinterlassen hat.
Es ist ein gefährliches Vorurteil, Rechtsextremismus schlicht als Bildungsproblem abzutun, denn
rechtsextremistische Einstellungen sind in allen Bildungsschichten nachzuweisen.
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Eine sich intellek-
tuell gebende „Neue Rechte“ versucht durch propagandistische Beiträge in Zeitschriften und
Zeitungen, aber verstärkt auch im Internet ein rechtskonservatives Publikum zu erreichen. Zugleich
gibt es konservative „Bürgerbewegungen“, wie die Initiative „Pro Deutschland“, die sich die fremden-
feindliche Ziele der Rechtsextremen zu Eigen machen. Nicht zu unterschätzen ist auch der Einfluss
rechtsextremer Jugend- und Subkultur. „Rechtsrocker“ verteilen kostenlose „Schulhof-CDs“ und
hetzen gegen „grüne“ Lehrer/innen, Ausländer/innen und Deutsche mit Migrationshintergrund. Auch
haben sich einige Modemarken etabliert (zum Beispiel „Thor Steinar“), die als Ausweis rechter
Gesinnung gelten. In jüngster Zeit finden sich auch Symbole und Accessoires in der Szene, die vormals
dem linken Spektrum oder der Hip-Hop-Kultur zugerechnet wurden.
Die Zahl der aktiven Rechtsextremen ist deutlich geringer als die der passiven Unterstützer/innen.
Unter den passiven Unterstützer/innen finden sich nicht nur „die ewig Gestrigen“ aus dem rechtskon-
servativen Milieu, sondern zunehmend junge Menschen, vor allem Männer. Junge Männer sind auch
für das Gros der rechtsextremen Straf- und Gewalttaten verantwortlich. Sie reichen von Nötigung,
Volksverhetzung und Sachbeschädigung bis zu gefährlicher Körperverletzung und Mord.
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Seit der
deutschen Wiedervereinigung starben mindestens 137 Menschen durch rechtsextremistische Gewalt.
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Rechtsextreme Gewalt wird zumeist aus der Gruppe heraus begangen. Rechtsextreme Einstellungen
bilden die Basis, zur Eskalation kommt es jedoch aufgrund individueller Anlässe. Für Rechtsextre-
mist/innen scheint die Inszenierung von Gewalt eine große Rolle zu spielen. Die Mehrzahl der Taten
ereignen sich in Regionen, in denen es eine vergleichsweise geringe Anzahl von Menschen mit
Migrationshintergrund gibt.
Die Erklärungsmodelle für Rechtsextremismus sind umstritten und selten verallgemeinerbar. Ein
populärer Erklärungsansatz sieht rechtsextreme Einstellungen und Verhaltensweisen als eine
Begleiterscheinung von Modernisierung und Individualisierung. Insbesondere Menschen aus dem klas-
sischen Arbeitermilieu mit niedrigerem Bildungsniveau könnten demzufolge mit dem Tempo der
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Decker, Oliver; Brähler, Elmar (2006): Vom Rand zur Mitte.
Rechtsextreme Einstellungen und ihre Einflussfaktoren in Deutschland.
Friedrich- Ebert- Stiftung Berlin.
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Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2009. Berlin.
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Laufend aktualisierte Chronik unter:
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Rechtsextremismus
Definition:
Rechtsextremismus ist ein Sammelbegriff für ein breites Spektrum „rechter“ Einstellungen und
Verhaltensweisen. Rechtsextremes Gedankengut findet sich bei rechtspopulistischen Parteien, aber
auch in alltäglichen Weltanschauungen. In der Wissenschaft wird zwischen rechtsextremen
Einstellungen und Verhaltensweisen unterschieden.
Eine typisch rechtsextreme Einstellung ist geprägt von einer autoritären Weltanschauung. Sie fußt auf
einem hierarchischen Familien- und Gesellschaftsbild und lehnt die Demokratie ab. Hinzu kommt ein
Denken in sozialdarwinistischen oder biologisch-rassistischen Kategorien, aus dem eine prinzipielle
Ungleichheit der Menschen und die Überlegenheit der eigenen ethnischen Gruppe (Ethnozentrismus)
gefolgert werden. Restextreme Einstellungen kennzeichnen Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit und
Antisemitismus. Gewalt als politisches Mittel wird zumeist akzeptiert. Rechtsextremistische
Einstellungen bilden den ideologischen Legitimationsrahmen für rechtsextremistisches Verhalten.
Als solches Verhalten wird die aktive Unterstützung rechts-gerichteter Gruppen bezeichnet. Hierzu
gehört bereits die Wahl einer rechten Partei, die Mitgliedschaft einer rechtsextremen Vereinigung
(
zum Beispiel einer „Freien Kameradschaft“), die Unterstützung von Jugendorganisationen, wie
der „Heimattreuen Deutschen Jugend“, aber auch die Beteiligung an Straf- und Gewalttaten von
Neonazigruppen.
Trotz großer Unterschiede zwischen den verschiedenen rechten Gruppierungen in Deutschland lässt
sich eine gemeinsame politische Programmatik ausmachen. Sie verbindet ein demokratiefeindlicher
Nationalismus. Ihre Gesellschaftskritik richtet sich gegen den politischen und kulturellen Pluralismus
der Bundesrepublik. An seine Stelle soll eine exklusive „Volksgemeinschaft“ treten, die Staat und Volk
quasi-natürlich vereint. Gewünscht wird eine Rückkehr zu autoritären Prinzipien und die Führung
durch eine „starke Hand“. Eine wichtige Rolle spielen historischer Revisionismus und die Mythisierung
des Dritten Reiches. Sie reichen von Verharmlosung („Nicht alles was Hitler gemacht hat, war
schlecht.“) über Verschwörungstheorien („Die Nazi-Vergangenheit ist nur ein Vorwand fremder
Mächte, um Deutschland zu unterdrücken.“) bis zur Leugnung des Holocausts. An der vermeintlichen
Dekadenz der heutigen Gesellschaft lasse sich der Verlust „traditioneller“ deutscher Werte ablesen.
Für den Sittenverfall wird die politische, kulturelle und ethnische „Überfremdung“ Deutschlands und
die politische Vereinnahmung durch fremde äußere Mächte verantwortlich gemacht. Rechtsextreme
agitieren deshalb gegen Einbürgerung, Zuwanderung und Menschen mit Migrationshintergrund,
insbesondere aber gegen solche, die als fremd wahrgenommen werden, zum Beispiel Muslime oder
dunkelhäutige Menschen.
Gesellschaftliche Bedeutung:
Rechtsextremismus ist ein internationales Phänomen. Rechtspopulisten wie der Österreicher Jörg
Haider, Jean-Marie Le Pen aus Frankreich oder der Niederländer Pim Fortuyn haben durch ihre Erfolge
weltweites Aufsehen erregt. Rechtsextremen Parteien gelang, zumindest zeitweise, der Einzug in meh-
rere nationale Parlamente und sogar in das EU-Parlament. Dagegen konnte sich in der Bundesrepublik