INTEGRATION A–Z
INTEGRATION
75
kulturalisiert und relativiert. Eine bedingungslose Toleranz verhindert die kritische Auseinander-
setzung mit gesellschaftlichen Fragen, die alle gleichermaßen betreffen. Es gibt Regeln, die von allen
akzeptiert werden müssen, von Alteingesessenen ebenso wie von Neuankömmlingen, da sie ein
friedliches Zusammenleben erst ermöglichen. In erster Linie sind dies die Werte des Deutschen
Grundgesetzes, des Rechtsstaates und der politischen Beteiligung.
Gesellschaftliche Bedeutung
Integration ist zu einem zentralen Begriff der gesellschaftspolitischen Debatten in Deutschland gewor-
den. Lange Zeit galt Deutschland nicht als Einwanderungsland, obwohl dies faktisch der Fall war.
Migration und Gastarbeit wurden als „Übergangsphänomene“ angesehen. Kaum jemand dachte daran,
dass die angeworbenen Menschen dauerhaft in Deutschland bleiben. Folglich gab es keine
Integrationspolitik, sondern Ausländerpolitik.
Mittlerweile hat sich das geändert. Die Förderung von Integration gehört nicht zuletzt angesichts der
demographischen Entwicklung zu den wichtigsten gesellschaftspolitischen Aufgaben unserer Zeit.
Das Thema ist jedoch nicht auf Deutschland beschränkt. Die fortschreitende Globalisierung und
Europäisierung der Politik führen die internationale Dimension des Themas vor Augen. Die Länder
Europas haben sich zu pluralistischen Gesellschaften mit vielfältigen Kulturen und Lebensstilen ent-
wickelt. Der klassische Nationalstaat mit homogener Bevölkerung und Kultur tritt in den Hintergrund.
Inzwischen wurde die Zuwanderungs- und Staatsbürgerschaftsgesetzgebung in Deutschland neu
geregelt, um Einbürgerung zu erleichtern und die rechtliche Sicherheit und politische Teilhabe
der Migrant/innen zu verbessern. Die Versäumnisse der Vergangenheit lassen einige
Integrationsprobleme heute noch deutlicher hervortreten. Teilweise Ausgrenzung und
Diskriminierung auf der einen sowie teilweise räumliche Segregation, kulturelle und soziale
Abschottung auf der anderen Seite, können Missverständnisse und Vorurteile zwischen
Aufnahmegesellschaft und Minderheiten befördern. Desintegrationsprozesse bedeuten gerade für die
junge Generation eine gesellschaftliche Sackgasse. So besitzen Menschen mit Migrationshintergrund
noch immer geringe Bildungs- und Berufschancen. Andererseits führt die befürchtete Entstehung von
kulturellen „Parallelwelten“ zu einer Polarisierung der Fremd- und Selbstwahrnehmungen der
migrantischen Lebenswelten und zum Teil sogar zu Konflikten mit deutschen Gesetzen und
Wertauffassungen.
Integration heißt Interaktion. Integration hat die größten Chancen auf Erfolg, wenn sie auf Akzeptanz
und Verständigung setzt. Der erste Schritt dahin ist ein gemeinsames Bekenntnis. Die Mitglieder einer
Gesellschaft sollten sich zu kultureller Vielfalt, heterogenen Lebensstilen, Traditionen und Religionen
bekennen. Zugleich müssen alle deutlich machen, dass sie daran aktiv partizipieren wollen. Die Basis
für gelungene Integration ist ein wechselseitiger Verständigungsprozess. Statt übereinander sollte
miteinander gesprochen werden. Gegen Ausgrenzung, Diskriminierung oder Rassismus muss gemein-
sam entschlossen vorgegangen werden. Interaktionistische Integration toleriert nicht einfach die
Vielfalt der pluralistischen Gesellschaft, sie schafft zugleich Räume für Gemeinsamkeiten und
INTEGRATION A–Z
INTEGRATION
74
Integration
Definition:
Integration findet auf verschiedenen persönlichen und gesellschaftlichen Ebenen statt, die sich ideal-
typisch trennen lassen. Strukturelle Integration schafft die gesellschaftlichen Vorrausetzungen für
Integration, zum Beispiel die rechtliche Gleichstellung, und eröffnet Migrant/innen den Zugang zu
gesellschaftlichen Gütern und Positionen. Zugleich entwickeln Migrant/innen wichtige Kompetenzen,
wie die Sprachbeherrschung oder den Umgang mit sozialen Regeln und Gesetzen der Aufnahmgesell-
schaft. Soziale Integration entsteht durch den persönlichen Kontakt und Austausch zwischen
Migrant/innen und Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft. Der dadurch ermöglichte Prozess des
Einlebens in das neue Umfeld wird als kulturelle Integration bezeichnet. Eigene kulturelle Traditionen,
Werte und Normen kommen dabei auf den Prüfstand. Durch Identifikation entwickeln Migrant/innen
ein Gefühl von Zugehörigkeit zur Aufnahmegesellschaft. Entgegen diesem idealen Modell gibt es aller-
dings in Politik und Wissenschaft ganz unterschiedliche Konzepte wie Integration verlaufen soll und
welche Ziele und Anforderungen damit verbunden sind.
Assimilative Integrationskonzepte fordern von Menschen mit Migrationshintergrund die größtmögli-
che Anpassung an die Kultur der Aufnahmegesellschaft. Integration wird als eine einseitige
Verpflichtung zur Veränderung verstanden. Die Forderung nach Assimilation geht weit über das
Erlernen der Landessprache hinaus und hat kulturelle Gleichheit zum Ziel. Die Realität sieht dennoch
anders aus. Einerseits lassen sich kulturelle Unterschiede und Identitäten nicht einfach wegwischen.
Andererseits sind die Grenzen kultureller Identität fließend und verändern sich durch soziale
Interaktion. Die Grenzziehung zwischen dem Eigenen und dem Fremden, zwischen „Deutschen“ und
„
Migrant/innen“ ist deshalb keineswegs einfach. Selbst anpassungswilligen Migrant/innen stellt sich
mitunter die Frage „Woran anpassen?“. Jeder Mensch ist anders – eine vollständige kulturelle
Übereinstimmung (Assimilation) kann es nicht geben. Zudem müssen Gründe und Dauer des
Aufenthalts im neuen Land beachtet werden. Je kürzer der geplante Aufenthalt, desto weniger
Anpassung ist notwendig. Die einseitige Forderung nach Assimilation zeugt von Ignoranz gegenüber
den kulturellen Traditionen. Dies verhindert langfristig Verständigung und Akzeptanz und wirkt
Anreizen für Teilhabe entgegen.
Ein anderes Integrationskonzept lässt sich unter dem viel kritisierten Begriff der „Multi-Kulturellen
Gesellschaft“ zusammenfassen. Ziel von Integration ist hier ein Zusammenleben verschiedener
Kulturen unter dem Dach der Bundesrepublik. Dieses pluralistische Integrationskonzept fordert eine
größtmögliche Toleranz gegenüber Fremden. Ein Assimilationszwang besteht nicht, die Kulturen von
Einwander/innen und Deutschen können daher dauerhaft voneinander getrennt bleiben. Dadurch ent-
stehen allerdings Reibungspunkte und Konflikte, wo divergierende Interessen aufeinander treffen oder
verschiedene Werte oder kulturelle Regeln nicht miteinander vereinbar sind. Multikulturalität wird
insofern als Bereicherung der Gesellschaft wahrgenommen (zum Beispiel beim Essen), solange die
eigenen Positionen und Werte nicht in Gefahr geraten.
Kritiker/innen dieses Ansatzes der Multikulturalität wenden ein, dass ein solches
Integrationsverständnis kein „Miteinander“, sondern ein langfristiges „Nebeneinander“ fördert.
Unterschiede oder Konflikte werden dann vorschnell nach dem Motto „Wir sind eben anders“