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S C H I E D S R I C H T E R - Z E I T U N G 3 / 2 0 1 3
Analyse
Ball befindet und nur einen Gegen-
spieler (den Torwart) vor sich hat,
steht er im Abseits. Weil der Ball
auch tatsächlich zu ihm gelangt
und er ins Spiel eingreift, handelt
es sich um eine strafbare Abseits-
Stellung
(
Foto 2a)
.
Die Fahne von Jan-Hendrik Salver
bleibt allerdings unten, denn der
Assistent hat den minimalen Ball-
kontakt von Younes nicht erkennen
können. Salver befindet sich ja
nicht nur rund 35 Meter entfernt,
sondern seine genaue Wahrneh-
mung wird durch Spieler gestört,
die sich in dieser Zone befinden.
Zudem hat er von der Seitenlinie
einen äußerst ungünstigen Blick-
winkel, um die Richtungsänderung
des Balles erkennen zu können.
Eine ganz andere Sicht auf diese
Szene hat Schiedsrichter Wolfgang
Stark
(
Foto 2b)
.
Weil er vertikal
schaut, erkennt er genau, dass
Younes den Ball berührt. Allerdings
kann der Schiedsrichter von seiner
Position im Mittelkreis keine exakte
Abseits-Bewertung vornehmen. Da
nun sowohl Stark als auch Salver
jeweils nur die eigene Sichtweise
der Situation kennen, läuft das
Spiel zunächst weiter, und Herr-
mann erzielt die 1:0-Führung für
Borussia Mönchengladbach. Das Tor
wird zunächst anerkannt.
Jetzt erst, als das Spiel nach dem
Treffer unterbrochen ist, haben
Schiedsrichter und Assistent die
Zeit, ihre unterschiedlichen Wahr-
nehmungen wie ein Puzzle
zusammenzusetzen, sodass sich ein
klares Bild der Situation ergibt.
Zunächst kommunizieren beide
über das Head-Set. Dann geht Wolf-
gang Stark sogar nach draußen zu
seinem Assistenten, um alle Zweifel
auszuräumen
(
Foto 3)
.
„
Ich habe zu meinem Assistenten
gesagt, dass der Spieler Younes mit
der Hacke dran war. Daraufhin sagte
mein Assistent: ‚Also dann war Herr-
mann im Abseits’“, schildert Wolf-
gang Stark die Momente, während
denen die Gladbacher Fans den Tref-
fer von Herrmann bereits bejubeln.
Doch dem Schiedsrichter-Team
bleibt gar keine andere Wahl, als das
Tor abzuerkennen.
Regeltechnisch sind sie dabei auf
der sicheren Seite: Solange das
Spiel noch nicht fortgesetzt ist
(
hier wäre es der Anstoß für Bre-
men), kann eine Entscheidung (also
das Tor für Gladbach) zurückge-
nommen werden: „Voraussetzung
hierfür ist, dass der Schiedsrichter-
die Partie weder fortgesetzt noch
abgepfiffen hat“, wie es in Regel 5
heißt.
Dass eine solch unpopuläre Ent-
scheidung zunächst zu Protesten
führt, ist verständlich. Natürlich
darf ein Unparteiischer nicht jeden
Pfiff erläutern, aber in einem solch
speziellen Fall ist es genau richtig
von Stark und Salver, dass sie den
Gladbacher Spielern und der Bank
die Situation kurz erklären
(
Foto 4)
.
Das verzögert zwar das Spiel um
einige weitere Momente, aber es
trägt auch zur Beruhigung auf dem
Platz bei. Der altbewährte Spruch
„
Sicherheit vor Schnelligkeit“ hat
sich auch in dieser Szene einmal
mehr als richtig herausgestellt. Und
als während der Halbzeitpause auf
der Videowand die TV-Bilder laufen,
sehen auch die Zuschauer im Sta-
dion, dass das Team Stark richtig
gehandelt hat.
Das erkennt auch Gladbachs Trainer
Lucien Favre nach dem Spiel an,
ganz im Sinne des Fußballs: „Es ist
besser so, als wenn ein Tor zählt,
das keines war.“
Was lässt sich nun aus Schiedsrich-
ter-Sicht aus diesem Spiel lernen?
Um diese Szene unter Stress richtig
entscheiden zu können, müssen die
Abläufe einer solchen Situation
Thema der Absprache vor dem
Spiel sein. Mental müssen alle
Team-Mitglieder darauf eingestellt
sein, dass es zu solch einem Ablauf
kommen kann. Weder der Assistent
noch der Schiedsrichter dürfen bei
ihrer Entscheidung „spekulieren“.
Erst das Zusammenfügen der Sicht-
weisen führt zur richtigen Lösung.
„
Es war eine Situation, die spielent-
scheidend hätte sein können. Des-
halb haben wir uns genau austau-
schen müssen. Man stelle sich ein-
mal die Reaktionen vor, wenn wir
uns eine Minute lang unterhalten
hätten, und dann wäre unsere
Bewertung falsch gewesen“, erklärte
Wolfgang Stark nach dem Spiel.
Den Einsatz von TV-Bildern zur Ent-
scheidungsfindung lehnte er im
gleichen Atemzug ab. „Man sollte
den Fußball so lassen, wie er ist und
nicht zu kompliziert machen“,
erklärte er. Ob man angesichts von
verschiedenen Kamera-Einstellun-
gen überhaupt innerhalb von ein
paar Sekunden die optimalen Bilder
gehabt hätte, sei fraglich.
„
Das Kommunikations-System gibt
uns bereits genug Möglichkeiten.“
Und diese Möglichkeiten haben
Wolfgang Stark und Jan-Hendrik
Salver optimal genutzt.
■
Als Younes den Ball mit der Hacke verlängert, sieht Assistent
Jan-Hendrik Salver die Abseits-Position von Patrick Herrmann,...
...
und Schiedsrichter Wolfgang Stark erkennt von seiner Position
die Richtungsveränderung des Balles.
Nach Rücksprache mit seinem
Assistenten ergibt sich für
Wolfgang Stark ein klares Bild
der Situation.
Assistent Jan-Hendrik Salver
nimmt sich die Zeit, Gladbachs
Trainer Lucien Favre die unge-
wöhnliche Situation zu erklä-
ren.
Foto 2a
Foto 2b
Foto 4
Foto 3