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S C H I E D S R I C H T E R - Z E I T U N G 3 / 2 0 1 3
Analyse
E
ine der ungeschriebenen
Regeln für Schiedsrichter lau-
tet im internationalen Sprachge-
brauch: „Expect the unexpected!“ –
„
Erwarte das Unerwartete!“ Man
könnte vielleicht auch sagen:
„
Rechne während des Spiels
immer mit dem Schlimmsten!“
Und was ist dieses „Schlimmste“?
Es ist eine Situation, für die der
Schiedsrichter keine Lösung hat.
Denn das erwarten ja alle Beteilig-
ten von ihm: Der Unparteiische
soll jeden Konfliktfall, jedes Pro-
blem im Handumdrehen lösen,
damit das Spiel schnell weiter-
gehen kann. Und diesen Anspruch
hat er auch an sich selbst, damit
seine Autorität keinen Schaden
nimmt.
Selbst wenn man als Schiedsrich-
ter in seiner mentalen Vorberei-
tung auf ein Spiel alle möglichen
Fälle durchspielt, so bleibt doch
immer ein Rest Ungewissheit, ob
man nicht gerade heute in eine
bisher selten oder gar noch nie
erlebte Situation gerät. So wie es
dem Schiedsrichter des Spiels
Hannover 96 gegen den Hambur-
ger SV am 23. Spieltag
ging: Als
Hannovers Torwart Zieler mitten
im Strafraum den Spielball aufge-
nommen hat, bemerkt er, dass
neben ihm ein zweiter Ball liegt,
der sich wohl dank eines unacht-
samen Balljungen selbstständig
gemacht hat
(
Foto 1a).
Der Torwart schlägt den Ball, den
er in den Händen hält, ins Seiten-
aus
(
Foto 1b)
und nimmt nun – wie
selbstverständlich – den anderen
Ball auf, um mit ihm das Spiel fort-
zusetzen.
Wer bei der Video-Analyse dieser
Szene genau hinhört, bemerkt, dass
der nun folgende Pfiff des Schieds-
richters mit einer ganz kleinen Ver-
zögerung kommt. Fachleute erken-
nen daran, dass er eine Sekunde –
die Schrecksekunde des „Unerwar-
teten“ – nachdenken muss, was
gerade passiert ist: Der „Spielball“
ist über die Seitenauslinie gespielt
worden. Also kann die Spielfortset-
zung nur Einwurf für die gegneri-
sche Mannschaft lauten, oder? Klar
ist: Der zweite Ball, den der Torwart
jetzt in den Händen hält, muss das
Spielfeld „verlassen“.
Eine solch ungewöhnliche Situation
verursacht natürlich ein wenig Hek-
tik bei Spielern und Trainern. Aber
der Schiedsrichter erläutert Tor-
wart Zieler kurz das Geschehen,
genauso wie es der Vierte Offizielle
mit Hannovers Trainer macht. Und
als dann auch noch der Hamburger
Rafael van der Vaart im Sinne des
Fair Play den Ball wieder zu Torwart
Zieler wirft
(
Foto 1c)
,
scheint alles
okay zu sein, und die gänzlich
„
unerwartete“ Situation ist zur
Zufriedenheit aller Beteiligten
gelöst – allerdings regeltechnisch
falsch.
Denn der Schiedsrichter hat die Rei-
henfolge der Ereignisse nicht
beachtet. Kommt es während des
laufenden Spiels zu einem „Einfluss
von außen“ – und der liegt hier ein-
deutig vor, sonst hätte der Torwart
den Ball ja nicht ins Aus geschlagen –
wird es nach der notwendigen
Unterbrechung immer mit einem
Schiedsrichter-Ball fortgesetzt, egal
was noch passiert. Beispiel: Läuft
ein Zuschauer aufs Spielfeld und
wird von einem Spieler geschlagen,
sieht der die Rote Karte. Spielfort-
setzung aber ist der Schiedsrichter-
Ball, weil zuerst der Zuschauer das
Spielfeld betreten hat.
In unserem Fall war der „Schuldige“
der zweite Ball. Dass Torwart Zieler
den eigentlichen Spielball danach
ins Aus geschlagen hat, ist für die
Fortsetzung des Spiels unerheblich.
***
Zwischen dem 18. und 25. Spieltag
wurden in den Bundesliga-Berich-
ten des Fernsehens insgesamt 34
Handspiel-Szenen thematisiert und
damit auch öffentlich bewertet. Was
Ein Ball zu viel im Spiel
Natürlich haben auch die bisherigen Spiele der Rückrunde in den Profi-
ligen Szenen hervorgebracht, deren genauere Analyse allen Schiedsrich-
tern helfen kann. Vor allem im Bereich Handspiel und Simulation zeigen
Lutz Michael Fröhlich und Lutz Lüttig auf, wie dicht die richtige und die
falsche Entscheidung oft beieinanderliegen. Zu Anfang befassen sie sich
allerdings mit einem eher kuriosen Fall.
Hannovers Torwart Ron-Robert Zieler scheint wegen der zwei
Bälle ein wenig ratlos zu sein.
Er schießt den Spielball aus
dem Feld.
Mit „freundlicher Unterstützung“ des Schiedsrichters wirft der
Hamburger van der Vaart den Ball zum Gegner.
Foto 1a
Foto 1b
Foto 1c