30
S C H I E D S R I C H T E R - Z E I T U N G 5 / 2 0 1 2
EM-Analyse
Auch Fabregas bekommt Alves’ Rücksichtslosigkeit zu spüren.
Drei Mal übertreibt Bruno Alves den Einsatz gegen Negredo.
Fotos 11a
Foto 11b
Szene 10: „Ellenbogen“
aus Polen – Tschechien
Stichwort „Nachsicht“: Gleich drei
Mal innerhalb von vier Minuten
geht der Pole Dudka mit unfairen
Mitteln vor. Bei der Aktion gegen
Pilar
(
Foto 10a, vorige Seite)
fährt
er den Arm aus, stoppt damit den
an ihm vorbei sprintenden Spieler.
Er setzt dabei seinen Ellenbogen
als Sperre und als Räumwerkzeug
ein. Aufgrund der fehlenden
Schlagbewegung ist diese Aktion
noch mit „Gelb“ zu bewerten. Aber
Schiedsrichter Thomson belässt
es fälschlicherweise nur bei einem
Pfiff. Eine Minute später bremst
Dudka den Tschechen Hübsch-
mann auf ähnliche Weise
(
Foto 10b)
.
Wieder gibt es nicht einmal eine
Ermahnung, und auch als Dudka
drei Minuten danach seinen Geg-
ner neben dem polnischen Straf-
raum zu Fall bringt, lässt der
schottische Schiedsrichter, der in
diesem Spiel insgesamt sechs Mal
„
Gelb“ zeigte, die Karte stecken.
Mag sein, dass er die Fouls alle als
nicht so „schlimm“ empfand, wie
wir es im TV erkennen konnten.
Aber nicht nur die erste Szene,
sondern auch das wiederholte
Foulspiel muss Konsequenzen
haben, zumal wenn es sich inner-
halb so kurzer Zeit abspielt.
Szene 11: „Anspringen“
aus Spanien – Portugal
Und auch bei der „Spezialität“ des
Portugiesen Bruno Alves zeigte
sich der Unparteiische zu lang-
mütig. Die drei
Fotos 11a
zeigen
nicht etwa dieselbe Szene, son-
dern drei verschiedene Zweikämpfe,
in denen Alves seinen Gegenspie-
ler Negredo beim Kopfball von
hinten wuchtig anspringt und ihn
herunterdrückt. Die statischen
Fotos dokumentieren die Dynamik
seiner Sprünge allerdings nur
mangelhaft.
Diese Spielweise ist dann häufig
zu sehen, wenn Mannschaften
ihren einzigen Stürmer hoch
anspielen und der Abwehrspieler
mit hohem Tempo von hinten
nicht nur hoch, sondern in den
Spieler hinein springt. Hier ist der
Schiedsrichter gefordert, den
Bewegungsablauf des Abwehrspie-
lers richtig zu deuten. Hochsprin-
gen ist erlaubt, Anspringen nicht.
Sollte dies wiederholt passieren
oder mit zu großer Heftigkeit, so
ist neben dem Freistoß auch noch
die Verwarnung auszusprechen.
Insgesamt geht Alves in diesem
Spiel fünf Mal in dieser Weise
gegen Negredo vor, wobei
Schiedsrichter Cakir in zwei Situa-
tionen zu Recht auf Vorteil
erkennt. Als Negredo ausgewech-
selt wird, bekommt es Alves mit
Cesc Fabregas zu tun, ein Offen-
sivspieler, der das flache Zuspiel
bevorzugt. Was Alves zur Ände-
rung seines Verhaltens zwingt:
Statt den Spanier anzuspringen,
tritt der Portugiese zwei Mal von
hinten zu wie auf
Foto 11b,
ehe es
dem Schiedsrichter endlich reicht,
und er Alves in der 86. Minute
(
und nach insgesamt sieben Fouls)
die Gelbe Karte zeigt.
Mag sein, dass durch die beschrie-
benen Szenen der Eindruck ent-
steht, dass es bei dieser Europa-
meisterschaft doch besonders rüde
zugegangen wäre und die Schieds-
richter nicht den Ansprüchen
genügt hätten. Deshalb sei auch
am Schluss noch einmal betont:
Insgesamt war es aus Schiedsrich-
ter- und Assistenten-Sicht – bis auf
einige Einzel-Entscheidungen –
eine sehr gute EM. Für uns alle gilt
es, aus den beschriebenen Situa-
tionen zu lernen. Also möglichst
nicht die gleichen Fehler zu bege-
hen und sich aus den positiven
Aktionen Impulse für die eigene
Spielleitung herauszuziehen.
Der Wermutstropfen aus deutscher
Sicht war sicher, dass das Turnier
für unseren Schiedsrichter Wolf-
gang Stark und sein Team nach der
Vorrunde endete. Hier entstand der
Eindruck, dass – wie bei Viktor Kas-
sai und seinem Team – eine Einzel-
situation zum Anlass genommen
wurde, einem Schiedsrichter
zunächst keine weiteren Spiele
anzuvertrauen.
Das darf aber nicht – egal in wel-
cher Spielklasse – als Maßstab für
die Qualität eines Spielleiters her-
halten, was man wie erwähnt auch
aus den anfangs zitierten Worten
von Günter Netzer ableiten darf.