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S C H I E D S R I C H T E R - Z E I T U N G 5 / 2 0 1 2
Der DFB-Lehrbrief Nr. 44 befasst sich mit einem zentralen Punkt des Regelwerks: dem direkten und
Günther Thielking stellt den Inhalt des Lehrbriefs vor.
Lehrwesen
Freistöße sorgen für Fa
D
er ehemalige Nationaltorwart
Jens Lehmann gehört ohne
Zweifel zu denjenigen Spielern, die
unvergessliche Momente in ihrer
Karriere hatten: Präsent ist heute
noch die Legende seines kleinen
Zettels beim Elfmeterschießen
gegen Argentinien während der
WM 2006. Nicht weniger spektaku-
lär war sein Ausflug in den gegne-
rischen Strafraum im Jahr 1997, als
er als erster Torwart der Bundes-
liga ein Kopfballtor erzielte.
Es sind aber auch Schlagzeilen, bei
denen der Leser schon mal ins
Grübeln kommt, wenn er sie liest:
„
Lehmanns irre Pipi-Pause“ zierte
beispielsweise die Titelseite der
Bild-Zeitung am 11. Dezember 2009.
Das war passiert: In der 80. Minute
des Champions-League-Spiels zwi-
schen dem VfB Stuttgart und Unirea
Urziceni sprang Lehmann über die
Werbebande. Ohne Scheu vor den
anwesenden Kameras und den
40.000
Stadionbesuchern ging der
Spieler in die Hocke. Die Frage, ob
er dabei seiner Natur freien Lauf
ließ, quittierte der Torhüter nach
dem Spiel mit einem breiten Grin-
sen.
Und während Fußball-Deutschland
noch Tage lang über diese Frage
diskutierte, wurde in Schiedsrich-
ter-Kreisen bereits darüber gerät-
selt, wie ein Unparteiischer in
einer solchen Situation zu reagie-
ren hätte. Das Spiel lief schließlich
während des Spontanausflugs von
Lehmann. Sollte der Schiedsrichter
das Ganze übersehen, so wie der
überraschte Referee Viktor Kassai
aus Ungarn? Sicher nicht! Müsste
er das Spiel unterbrechen und dem
Torwart die Chance geben, sein
dringendes Bedürfnis zu befriedi-
gen, um anschließend mit einem
Schiedsrichter-Ball fortzufahren?
Auch das wäre nicht entsprechend
den Vorgaben im Regeltext gewe-
sen. So packte Lutz Wagner die
Szene auf die nächste DVD mit
Lehrvideos und löste sie auf: „Indi-
rekter Freistoß, wo sich der Ball bei
der Spielunterbrechung befand,
und natürlich die Gelbe Karte für
Jens Lehmann“, lautet auch drei
Jahre später noch die richtige
Lösung.
Als Studenten der Universität
Cambridge im Jahr 1848 die ersten
Fußballregeln verfassten, dachten
sie sicher noch nicht daran, dass
einmal ein Torwart wegen eines
solchen Vorfalls zu bestrafen wäre.
Sie erkannten aber schon aus
ihren eigenen Erfahrungen die
Notwendigkeit, dem Schiedsrichter
für eine faire, chancengleiche
Abwicklung eines Fußballspiels die
Möglichkeit zu geben, Spielstrafen
auszusprechen. So nahmen sie in
ihrem Regelwerk den Freistoß als
Sanktion gegen übertrieben hartes
und auch ungebührliches Beneh-
men auf. Gemeinsam mit dem
Eckstoß und der Abseitsregel
wurde der Freistoß schließlich 1866
eingeführt. Eine detaillierte Tren-
nung von indirekten und direkten
Freistößen gab es zunächst noch
nicht. Erst 1904 führte der Inter-
national Football Association
Board (IFAB), schon damals das
höchste Regelgremium des Welt-
fußballs, den direkten Freistoß ein.
Und seit 1913 muss der Abstand
eines gegnerischen Spielers zehn
Yards – das entspricht 9,15 Meter –
betragen.
Heute gehören die Entscheidungen
auf „Freistoß“ zu den häufigsten
Freistöße gehören für den Schiedsrichter zwar zum Tagesgeschäft, dennoch muss er bei der
Entscheidungsfindung und der Ausführung hochkonzentriert vorgehen.