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S C H I E D S R I C H T E R - Z E I T U N G 2 / 2 0 1 2
Schönefeld, rief er uns zu, ich
halte den Zug dort an. Weg war er
wieder. Und tatsächlich, als wir in
Schönefeld ankamen, wartete dort
Gesch“ auf uns – und der Zug
nach Halle auch.“
Eine schöne Anekdote, aber es gibt
in dieser Zeit auch ersten Unmut
über Gerhard Schulz. Mitarbeiter
der ASK-Jugendabteilung werfen
ihm „Manager-Manieren“ vor,
Überheblichkeit und Alleingänge.
***
Im Oktober 1957 leitet er sein drit-
tes WM-Qualifikationsspiel. Im
Idrætsparken von Kopenhagen
verliert Dänemark vor 28.000
Zuschauern mit 0:2 gegen Irland.
Zwei Linienrichter aus Schweden
assistieren ihm bei seinem letzten
großen internationalen Einsatz.
Schulz ist jetzt 51 Jahre alt und
wird auf der FIFA-Liste 1958 aus
Altersgründen nicht mehr erschei-
nen. Die Saison 1959 – die DDR-
Oberliga spielt zu jener Zeit an das
Kalenderjahr angepasst – wird
dann sein Abschluss auf nationaler
Ebene.
Im März 1960 pfeift Gerhard Schulz
das letzte Spiel seiner Karriere. In
Leipzig unterliegt eine DDR-Aus-
wahl in einem Test gegen die
UdSSR mit 1:2. Die „FuWo“ schreibt
am Tag danach: „Einer kam nach
Leipzig, um eine erfolgreiche Lauf-
bahn zu beenden: Schiedsrichter
Gerhard Schulz. Unser „Gesch“
pfiff sein letztes Spiel. Er leitete es
so umsichtig, so souverän, dass
man es bedauern könnte, ihn zu
verlieren, und dass man ihm sein
54.
Lebensjahr gewiß nicht
anmerkte.“
Mit 53 Jahren verlässt Gerhard
Schulz die oberste Ebene des Fuß-
balls endgültig. Wie sehr ihn das
getroffen hat, kann man nur ver-
muten. Jetzt bleibt ihm nur noch
die Jugendarbeit bei Vorwärts
Berlin – aber auch nur bis Ende
1961.
Dann muss er gehen, weil die
Beschwerden über seinen autokra-
tischen Führungsstil immer massi-
ver werden. Auch diese Vorwürfe
werden in der genannten Stasi-
Akte dokumentiert. Mehrere interne
Zeitreise
Gesprächsrunden haben zu keiner
Besserung geführt, so dass sich
die Führung des ASK gezwungen
sieht, Schulz zum 1. Januar 1962 zu
entlassen.
Ein bitteres Ende, das Fragen auf-
wirft, die man mit dem Abstand
von 50 Jahren zwar stellen, aber
kaum beantworten kann. Hat er
seine Mitarbeiter mit seiner
Arbeitswut überfordert? War er in
ihren Augen ein Besserwisser? Hat
er sie genervt mit dem Hinweis auf
seine Leistungen?
Oder: Wie sehr ist Schulz durch sei-
nen Lebensweg geprägt? In der
Nazizeit wird er als Funktionär auf
das „Führerprinzip“ eingeschworen;
als Schiedsrichter ist er es
gewohnt, zwar verantwortlich, aber
eben auch unumschränkt zu agie-
ren; in der strukturlosen Zeit nach
dem Weltkrieg beim Aufbau des
Fußballs bleibt er überwiegend auf
sich selbst gestellt. Und nun, nach
dem Ende seiner großen Karriere
als Schiedsrichter wird von Gerhard
Schulz gefordert, sich mehr und
mehr in die kollektiven Abläufe des
sozialistischen Sportalltags einzu-
passen. Damit ist der Individualist
Gesch“ wohl überfordert.
Wenn es in der Vorwärts-Chronik
über den Jugend-Fußball heißt: „Bis
1960
standen die Berliner in allen
Endrunden der einzelnen Alters-
klassen. Danach stagnierte die Ent-
wicklung zusehends“, mag das
auch etwas mit diesen Querelen
und später dem Fehlen des „Chefs“
Gerhard Schulz zu tun haben.
***
Wie auch immer – die Lebensspirale
von Gerhard Schulz dreht sich nun,
Anfang der 60er-Jahre, weiter nach
unten, denn inzwischen ist auch
seine Ehe zerbrochen. Schulz muss
sich eine neue Bleibe suchen. Seine
letzte bekannte Adresse lautet:
Berlin, Sporthalle Stalinallee“, ein
Gebäudekomplex, der heute nicht
mehr existiert. Die letzten sieben
Jahre im Leben dieses Mannes, der
als Schiedsrichter und als Fußball-
Funktionär Ungewöhnliches schaff-
te, bleiben im Nebel des Ungewis-
sen.
In seinen letzten Lebensjahren wurde es sehr einsam um Ger-
hard Schulz.
Im Begleitheft zur Ausstellung
Herr der Regeln“, die anlässlich
der WM 2006 in Leipzig stattfand,
schreibt Volker Kluge in seinem Bei-
trag über die DDR-Schiedsrichter:
Schulz hatte sein Leben ganz dem
Fußball verschrieben … Er starb
1969,
verarmt, verlassen und ver-
gessen.“
Der Autor hat diese Einschätzung
aus einem Gespräch, das er 2006
mit Fritz Gödicke, dem Wegbegleiter
von Gerhard Schulz, geführt hat.
Kluge: „In meinen Aufzeichnungen
stehen stichwortartig die Anmer-
kungen von Gödicke zu Schulz:
wurde krank – lief herum wie ein
Bettler – elendig in Armut gestor-
ben – ungerechterweise verges-
sen.“
Als Schulz am 10. Januar 1969 im
Alter von 62 Jahren in Berlin stirbt,
erscheint in der „Neuen Fußball-
Woche“ ein einspaltiger Nachruf
des Präsidiums des DFV, unterzeich-
net von Präsident Helmut Riedel, in
dem ein Herzanfall als Todesursa-
che genannt wird. Weiter heißt es:
Nach der Zerschlagung des
Faschismus arbeitete er rastlos und
unermüdlich unter Hintantstellung
seiner persönlichen Interessen für
unsere junge Sportbewegung … Er
wirkte als einer der führenden Män-
ner unseres Fußballs seit 1949 im
Deutschen Sportausschuss … Spä-
ter war Gerhard Schulz in verant-
wortlichen Funktionen beim ASK
Vorwärts Berlin tätig … Wenn einst
die Geschichte unseres Verbandes,
unserer Sportbewegung überhaupt
geschrieben wird, der Name dieses
Mannes, des am 26. Juni 1906 gebo-
renen Schriftsetzers, wird darin
einen Ehrenplatz einnehmen.“
Wie so oft in Nachrufen, ist auch in
diesem Text manches geschönt und
manches wohl auch dem schlech-
ten Gewissen der Fußball-Offiziellen
geschuldet. Denn es hat in Schulz’
letzten Lebensjahren niemand
mehr mit ihm Kontakt gehalten.
Was aber sicherlich stimmt in Rie-
dels Nachruf, ist die Passage:
arbeitete er rastlos und unermüd-
lich…“ Alles, was man über den
grandiosen Schiedsrichter Gerhard
Schulz herausfinden kann, spricht
für seinen ungeheuren Fleiß, seine
bemerkenswerte Fähigkeit, auf dem
Platz und außerhalb schnelle Ent-
scheidungen zu fällen und die nim-
mermüde Bereitschaft, sich in den
Wirren der Nachkriegszeit dem
schwierigen Aufbau einer Fußball-
bewegung zu stellen, für die es in
Deutschland kein Vorbild gab.