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S C H I E D S R I C H T E R - Z E I T U N G 1 / 2 0 1 2
Analyse
Mut zur Korrektur
Die Nachschau auf interessante Bundesliga-Szenen der vergangenen Wochen beginnen Lutz Wagner
und Lutz Lüttig diesmal mit einem Fall, der so ungewöhnlich und zugleich lehrreich ist, dass sie ihn
aus der üblichen Chronologie der Spieltage herausgenommen haben.
W
ir schreiben den 13. Spieltag, es
läuft die 82. Minute im Sams-
tagsspiel SC Freiburg – Hertha BSC.
Die Berliner führen 2:1, als Schieds-
richter Markus Wingenbach auf
Eckstoß für Freiburg entscheidet.
Der Berliner Ebert hält sich auch
nach einer entsprechenden Auffor-
derung nicht an den 9,15-Meter-
Abstand, so dass der Schiedsrich-
ter eine Verwarnung für ange-
bracht hält. Er zeigt dem Spieler
also die Gelbe Karte
(
Foto 1a).
Nachdem er den Fall notiert hat,
dreht sich der Unparteiische Rich-
tung Strafraum, um einen Blick auf
die „Pärchenbildung“ vor der Aus-
führung des Eckballs zu werfen.
Weil er keinen Grund zum Eingrei-
fen sieht, gibt er den Ball per Pfiff
frei, was in diesem Fall (nach dem
Aussprechen einer Persönlichen
Strafe) von der Regel 5 vorge-
schrieben wird.
Da er dabei allerdings der Eck-
fahne den Rücken zugekehrt hat,
bemerkt er nicht, dass die Freibur-
ger hinter seinem Rücken den Ball
schon zuvor ins Spiel gebracht
haben
(
Foto 1b).
Der wird zunächst
kurz gespielt und dann als Flanke
in den Strafraum geschlagen. Dort
köpft ihn ein Freiburger zum 2:2
ins Tor; Markus Wingenbach
erkennt den Treffer an.
Bis zu diesem Moment ist er näm-
lich der Meinung, dass der Ball
regelgerecht, also nach seinem
Pfiff, ins Spiel gebracht worden ist.
In den Jubel der Freiburger hinein
macht ihn sein Assistent Mike Pickel
per Headset darauf aufmerksam,
dass hier etwas nicht gestimmt
hat. Der Schiedsrichter geht zu
ihm hin und lässt sich den Vorgang
aus der Sicht des Assistenten
erläutern
(
Foto 1c).
Danach ist
Markus Wingenbach klar, dass er
die Entscheidung „Tor“ zurückneh-
men muss.
Fast jeder Schiedsrichter hat eine
ähnliche Situation schon einmal
erlebt: Für einen Moment sucht
man noch nach einem Ausweg aus
der unangenehmen Lage. Kann ich
nicht doch bei meiner Entscheidung
bleiben? Aber der Bauch weiß es
schon und ganz schnell signalisiert
es auch der Verstand: Nein, das
geht auf keinen Fall! Jeder Ausweg
wird hier zum Irrweg.
Es gilt sich zu straffen, das Rück-
grat durchzudrücken und so mutig
zu handeln, wie es Markus Wingen-
bach in dieser Situation tut: Er
lässt sich den Ball geben und trägt
ihn in Richtung Eckfahne. Natürlich
geht das nicht ohne Schwierigkei-
ten, denn die Freiburger Spieler
erkennen nun, dass ihr Tor nicht
zählen wird und stürmen auf den
Schiedsrichter ein, um ihn noch
einmal umzustimmen
(
Foto 1d).
Er verzichtet bei diesen Protesten
klugerweise auf Persönliche Stra-
fen, weil er damit nur Öl in ein
Feuer gießen würde, vom dem er ja
inzwischen weiß, dass er es leider
selbst entzündet hat. Letztlich legt
er den Ball selbst an der Eckfahne
hin
(
Foto 1e),
um damit jedermann
im Stadion deutlich zu machen,
wie das Spiel fortgesetzt wird.
Nämlich mit der Wiederholung des
Eckstoßes, der ohne seine in die-
sem Fall mit Pfiff notwendige
Zustimmung ausgeführt worden
ist. Die Spielfortsetzung war des-
halb irregulär.
Was lässt sich aus dieser Szene
lernen?
1.
Der Blick des Schiedsrichters
muss
bei jeder Spielfortsetzung
auf den Ball gerichtet sein.
2.
Die Spieler sollten möglichst
nach jeder Persönlichen Strafe
darauf aufmerksam gemacht
werden, dass sie den Ball erst
nach dem Pfiff des Schiedsrich-
ters spielen dürfen. Regelkennt-
nis – gar derart im Detail – kann
man bei ihnen nicht voraussetzen.
3.
Auch ohne technische Hilfsmit-
tel muss ein Assistent den
Schiedsrichter auf einen sol-
chen Fehler unbedingt vor der
nächsten Spielfortsetzung auf-
merksam machen - per Fahnen-
zeichen oder indem er sogar zu
ihm hinläuft.
4.
Schiedsrichter müssen den Mut
zeigen, einen Fehler zu korrigie-
ren, auch in einem vollen Sta-
dion, auch gegen den Druck der
Spieler und Offiziellen. So wie es
hier Markus Wingenbach mit
Hilfe von Mike Pickel vorexer-
ziert hat.
Selbst der von der Entscheidung
betroffene Trainer des SC Freiburg
erkannte diese Vorgehensweise
nach dem Spiel an: „Im Nachhinein
muss man sagen hat der Schieds-
Foto 1a
Foto 1b
Foto 1c
Foto 1d
Foto 1e