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S C H I E D S R I C H T E R - Z E I T U N G 6 / 2 0 1 2
Allerdings braucht es dazu auch
Menschen wie Daniel Balfanz. Der
Schiedsrichter-Koordinator vom
SV Blau-Gelb aus Weißensee mit
den rot-blonden Haaren hat Ricardo
Scheuerer im Internet kennenge-
lernt und musste nicht lange
überlegen, als er von dessen Plä-
nen hörte. Er besprach sich mit
der Vereinsführung, die sich
wiederum an den Berliner Fußball-
Verband wandte. „Es gab einige
Bedenken“, sagt Balfanz, der
heute bei mehr als 30 Grad auf
den Steintribünen am Kreuzberger
Fußballfeld sitzt und dem Spiel
zusieht. „Wenn sich in einer Ecke
zwei Spieler prügeln, kriegt er das
doch gar nicht mit“, hätten die
Fußballfunktionäre damals
befürchtet.
Man einigte sich, dass Ricardo
zunächst nur Testspiele pfeifen
und einen Regelkunde-Lehrgang
absolvieren sollte. Das tat er –
und beendete ihn als Jahrgangs-
Bester. „Das hat mich überrascht“,
sagt Balfanz und schaut wieder
auf den Platz. Die Spieler sind
zurück von einer kurzen Trinkpause,
die Ricardo wegen der Hitze ange-
ordnet hat. Scheuerer weicht
gerade einem Ball aus, indem er
zwei Schritte rückwärts tänzelt,
sich im Lauf dreht und weiter
trabt. Inzwischen ist Balfanz mit
Ricardo befreundet; wenn er ihn
trifft, verständigen sich beide
über Handy: Einer schreibt eine
SMS und zeigt sie dem anderen,
ohne sie abzuschicken.
Halbzeit. Die Spieler trotten vom
Feld, Trainer und Funktionäre sam-
meln sich vor dem Kiosk am Ver-
einshaus. „Dit war sowas von
ruhig“, sagt der Co-Trainer des
SC Berliner Amateure, während er
darauf wartet, dass der Kaffee
durchgelaufen ist. Und auf den
Schiedsrichter angesprochen:
Nichts zu meckern.“
Das hatte auch der Berliner Fuß-
ball-Verband schnell eingesehen.
Ricardo wurde gut bewertet und
darf seit April 2011 niederklassige
Jugendspiele pfeifen. Im Novem-
ber verlieh der Verband ihm und
seinem Verein SV Blau-Gelb den
Integrations-Preis, den er zusam-
men mit seinem Schiedsrichter-
Ausweis überreicht bekam. Inzwi-
schen pfeift Ricardo auch C- und
B-Jugendspiele. Sein nächstes Ziel
ist die A-Jugend.
In den ersten Spielen war Ricardo
noch aufgeregt. Kommunikations-
Assistentin Susan Krämer beglei-
tete ihn am Anfang jedes Wochen-
ende, um zu dolmetschen. „Er
musste alles kontrollieren“, sagt
die 25-Jährige. Sogar die Tore maß
er vor den Spielen aus. Er wollte
nichts falsch machen. Der Verband
war zufrieden.
Er hört wenigstens das Gemecker
und Gepöbel nicht“, heißt es oft,
wenn Leute mitbekommen, dass
der Schiedsrichter gehörlos ist.
Ganz stimmt das nicht, und einige
Spieler sind auf diese Fehlannahme
schon hereingefallen. Ricardo
kann von den Lippen lesen. Wenn
Spieler über seine Entscheidungen
schimpften, griff er in den ersten
Spielen noch nicht ein. Inzwischen
weicht er Konflikten nicht mehr
aus; er zeigt in solchen Situatio-
nen auf seine Brusttasche und
deutet mit dem Finger eine Ver-
warnung an, oder er zieht gleich
die Gelbe Karte heraus. Nur selten
muss er nach den Zettelchen in
seiner Brusttasche nesteln, um
sich schreibend verständlich zu
machen. Nach etwa 80 Spielen
bewegt er sich routiniert und
selbstbewusst auf dem Platz, gibt
mit den Händen deutliche Anwei-
sungen und lässt keine Fragen
offen. Krämer muss ihn heute
nicht mehr zu den Spielen beglei-
ten, er kommt allein zurecht. Die
meisten Spieler und Trainer der
Vereine, bei denen er angesetzt
ist, kennen ihn ohnehin schon.
Ricardo ist mittlerweile echt
bekannt“, sagt Krämer und lacht.
Nur einmal ist passiert, was
Scheuerer fürchtet: dass ihm die
Kontrolle des Spiels entgleitet.
Ungern denkt er an jene Partie
zurück, als er eine Rote Karte
nach der anderen zücken musste.
Da ging es drunter und drüber“,
erzählt er. „Es war richtig laut.“
Das erkannte er nicht nur an der
Wortwahl übers Lippenlesen, son-
dern auch über die Mimik und
Gestik der Spieler. Die hätten ein-
ander und ihn selbst beleidigt,
erinnert sich Ricardo, indem er
das mit dem Mittelfinger andeutet.
Er habe versucht, die Situation zu
beruhigen, bis ihn ein Spieler mit
dem Ellenbogen attackierte. Ricardo
brach das Spiel ab.
An diesem Sonntagvormittag
bleibt es ruhig. Hektik kommt nur
kurz in der 2. Halbzeit am Spiel-
feldrand auf, als der Trainer
der Köpenicker wechseln will.
Schiri!“, ruft der. „Schiri!“ ruft er
noch zwei weitere Male und dann
zu einem Spieler: „André, tipp mal
den Schiri an!“ Der macht das und
Scheuerer kreist mit den Händen
zur Auswechslung.
Die Köpenicker gewinnen am Ende
mit 5:1. Für Ricardo ist es trotz-
dem ein besonderes Spiel, denn
es ist das letzte, bevor er nach
Essen umzieht. Dort hat er einen
Platz in einem Internat bekom-
men, an dem er sein Abitur
machen wird. An den Wochenen-
den will er aber nach Berlin
zurückkommen – um zu pfeifen.
Ein paar Spieler laufen zu ihm und
drücken ihm die Hand, auch der
Co-Trainer. Scheuerer läuft zu sei-
ner Freundin am Spielfeldrand, sie
wirft ihm eine Wasserflasche zu.
Mit einem Handtuch um den Hals
setzt er sich auf ein Geländer und
muss grinsen, als er noch die
Frage beantworten soll, wie er
denn bemerke, ob jemand hinter
ihm stehe, wenn er auf dem Feld
rückwärts laufe. „Ich laufe ja
nicht einfach rückwärts“, sagt er.
Er schaue sich immer erst um.
Denn der Blick, der sei das Wich-
tigste.
Der 17-Jährige ist stolz: Er hat bewiesen, dass er auch gehörlos erfolgreich Spiele leiten kann.
Porträt